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Nr. 065: Heutige Ebertallee als ehemalige „Renommierstraße“

Nr. 065: Heutige Ebertallee als ehemalige „Renommierstraße“

Überangebot an Wohnungen in NS-Siedlungen und entlang der Südseite des KGV Mutterkamp eine „Prachtstraße“ zum „Jägerhof“

Der Widerspruch von Wohnungsmangel und Wohnungsnot wurde schon angesprochen: Die Braunschweiger Siedlungs- und Wohnungsbaupolitik war ab diesem Zeitpunkt, als in Salzgitter Erz abgebaut werden sollte, „vor allem auf einen steigenden Bevölkerungszuzug zurückzuführen, der mit der stetig wachsenden industriellen Entwicklung sowie dem Zuzug der […] Partei-, Militär- und Forschungseinrichtungen im Zusammenhang stand.“ (Stubenvoll 1987, S. 147) Ab 1940 verhängten die Nationalsozialisten wegen des Zweiten Weltkriegs (1939–1945) dann ein Neubauverbot. Doch wenn man statistisches Material auswertet, nämlich die Volkszählung 1939 und Verwaltungsberichte mit Wohnflächenausweisungen des Stadtplanungsamts, dann lässt sich für 1941 ermitteln, dass „etwa 33000 Wohnungen zuviel geplant waren“, „daß die damals im Süden und Südwesten der Stadt [Südstadt; Erweiterung der „Dietrich-Klagges-Stadt“/„Gartenstadt Rüningen“ im westlichen Ringgebiet; Broitzem] geplanten Wohnsiedlungen für etwa 110000 Einwohner über den tatsächlichen Bedarf hinaus geplant waren.“ (Stubenvoll 1987, S. 149)

„Prachtstraße“ parallel zur Südseite des KGV

Die neue „Renommierstraße“ (Biegel 2018, S. 29) führte unter der Bezeichnung „Hermann-Göring-Allee“ von der Boelckestraße (heutige Grünewaldstraße) nach links über den „Stadtparkdurchbruch“ und das auslaufende „SA-Feld“ auf der heutigen Herzogin-Elisabeth-Straße (1928–1933 umbenannt in Friedrich-Engels-Straße bzw. 1933–1938 und seit 1945 zurückbenannt in Herzogin-Elisabeth-Straße) bis zur Einmündung der Kastanienallee. Dort bog die „Prachtstraße“ wieder links ab und führte durch den Prinz-Albrecht-Park hindurch bis zum „Nussbergrand“ und hinter der Eisenbahnbrücke – an der kompletten Südseite des Kleingartenvereins Mutterkamp mit den Gärten Nr. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12 und 13 vorbei! – weiter über den Kreuzteich nach Riddagshausen bis zum „Reichsjägerhof“. Dabei passierte die „Prachtstraße“ rechterhand die Waldgaststätte „Grüner Jäger“, die ab 1740 als Jagdhaus mit Gartenanlage errichtet worden war und in der NS-Zeit stilistisch verändert wurde.

Im Juni 1925 wurden der Prinz-Albrecht-Park und das Franzsche Feld mit einer Gesamtfläche von 114,58 Hektar eingemeindet, also aus dem Gemeindebezirk Riddagshausen dem Stadtgebiet Braunschweig zugeschlagen. Trapezförmig sticht ein Gelände links vom „Reichsbahnhof Gliesmarode“ mit spitz zulaufender „Nase“ aus der orangefarbenen Fläche hervor: der Grund für die 168 Kleingärten der Kolonie an der verlängerten Heinrichstraße – noch Gliesmaroder Gebiet. Foto: Stadtarchiv Braunschweig: Atlas „Die Geschichte der Stadt Braunschweig in Karten, Plänen und Ansichten“, 3.60

1862 waren die Grenzen des Stadtgebiets amtlich festgestellt worden. Seitdem hatte es kaum Eingemeindungen gegeben, obwohl dies seit dem 19. Jahrhundert vorgeschlagen worden war. Die erste größere Eingemeindung erfolgte zum 5. Juni 1925: Der Prinz-Albrecht-Park und das Franzsche Feld wurden mit einer Gesamtfläche von 114,58 Hektar aus dem Gemeindebezirk Riddagshausen dem Stadtgebiet zugeschlagen. Diese neue Stadtgrenze bestand bis 31. März 1931.

Deutlich zu erkennen ist die Lage der 168 Kleingärten der Kolonie an der verlängerten Heinrichstraße. Es handelte sich um keinen eingetragenen Schrebergartenverein, obwohl die Gärten schon seit 1907 bestanden. Auf dem Gelände war teilweise früher der Zementplatz der Firma Maring gewesen, Zementwarenfabrikant Richard Maring hieß der Grundstückseigentümer. Im Mai 1923 verkaufte die Erbengemeinschaft Maring die 12,5 Morgen Land an die Firma Gebr. Fricke. Dachdeckermeister Friedrich Fricke wurde der neue Verpächter. Die Kolonie war weiterhin nicht als Verein organisiert. Erst im August 1933 gründete sich der „Schrebergartenverein Heinrichstraße“ – eine Zwangsgründung, die Staatskommissar E. Dippold veranlasst hatte, Führer der Landesgruppe Braunschweig im Reichsbund der Kleingärtner und Kleinsiedler Deutschlands. 

„monströse Dimensionen“

Bereits ab 1935 erweiterte (wie schon erwähnt) der eigene Gleiskörper der Straßenbahn Richtung Riddagshausen den „wohl ursprünglich nur für Kutschen gedacht[en]“ (Warnecke 2006, S. 76) Fuß- und Fahrweg durch den Prinzenpark. Die dort errichtete „Hermann-Göring-Allee“ besaß monströse Dimensionen, denn „[i]n dem Teilbereich durch den [Prinzen]Park erhielt die Allee zu der schon komfortablen Breite, in der wie sie heute kennen, zusätzlich einen 2,5 Meter breiten Reitweg.“ (Warnecke 2006, S. 76) „Die NS-Machthaber hatten sich für diese Allee eine besondere Straßenlaternen-Illumination einfallen lassen. Geld schien keine Rolle zu spielen. Es wurden beidseitig der Straße 170 Lampen im Abstand von 30 Metern installiert, die eine Gesamtleistung von 151000 Watt hatten.“ (Warnecke 2006, S. 76 f.) Hatte dies Einfluss auf das Thema „Lichtnetz“ für den KGV Mutterkamp? Wohl weniger, denn erst im „Jahresgeschäftsbericht 1964“ schreibt Wolfgang Kahnt, Nr. 97, Vorstand 1964–1968 zu dieser Thematik: „Die Erweiterung der Lichtanlage wurde in Angriff genommen. Die Arbeiten sind soweit fortgeschritten, daß sie als abgeschlossen bezeichnet werden können. Die letzten Stromabnehmer werden demnächst angeschlossen. Insgesamt werden bis jetzt 42 Teilnehmer mit Strom, der an das Drehstromnetz angeschlossen ist, beliefert.“ (Geschäftsbericht 1964, 13.02.1965, S. 1)

Fahrweg neben der Landstraße nach Riddagshausen – Befahren mit leeren Wagen erlaubt

Die Gartenvereinsprotokolle erwähnen dieses NS-Projekt in direkter Nachbarschaft nicht einmal beiläufig. Im November 1935 heißt es vermutlich über einen Vorläufer: „Über die Benutzung des neuen Weges neben der Hauptstraße nach Riddagshausen sollen noch nähere Ermittelungen angestellt werden.“ (13.11.1935, PB I, S. 9–11, hier S. 10) Und im Januar 1936 lässt der Vereinsführer mitteilen, „daß der neben dem der Landstraße nach Riddagshausen herlaufende Außenweg am südl. Ende der Kolonie mit einem Fahrweg versehen werden soll. Bis zu dessen Fertigstellung ist das Befahren des Weges mit leeren Wagen in Richtung Riddagshausen erlaubt.“ (11.01.1936, PB I, S. 12–14, hier S. 13) Um die „Prachtstraße“ zu errichten, wurden jedenfalls in der Nähe vom Kreuzteich zahlreiche Bäume gefällt, besonders Pappeln und Weiden – „Über diese Abholzungsaktion soll es in der Bevölkerung verständlicherweise Proteste gegeben haben, obwohl so etwas in der NS-Zeit sehr gefährlich und deshalb unüblich war.“ (Warnecke 2006, S. 76)

Quellen:

  • Stubenvoll, Bernhard (1987): Das Raumordnungsgeschehen im Großraum Braunschweig zwischen 1933 und 1945. Braunschweigs Raumordnungsziele in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden nationalsozialistischen Machteliten. Braunschweig: Stadt Braunschweig. Amt für Statistik und Stadtforschung.
  • Biegel, Gerd (2018): Nußberg – Geschichte am Wegesrand. In: Braunschweigische Heimat. 104. Jg., Nr. 1, S. 23–29. Online: https://leopard.tu-braunschweig.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dbbs_derivate_00045163/BS-Heimat_104-2018.pdf [12.10.2022]
  • Warnecke, Burchardt (2006b): Der Braunschweiger Nußberg und seine Umgebung. Ein Stück Stadtgeschichte aus dem Osten der Stadt Braunschweig. 10. Aufl. Braunschweig: Appelhans.
  • Kahnt, Wolfgang (13.02.1965): „Jahresgeschäftsbericht 1964“. Archiv KGV Mutterkamp. 2 Seiten. (Geschäftsbericht 1964)
  • Protokollbuch I (1935–1962): Schrebergartenverein Mutterkamp 1935–1962. Handschriftliches Manuskript / Transkription. Archiv KGV Mutterkamp, 192 Seiten. (PB I)