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Nr. 053: wie Pioniere auf dem Treck

Nr. 053: Wie Pioniere auf dem Treck

Die Kleingärtnernden machen ihr neues Stück Land auf dem Mutterkamp urbar. Währenddessen ringen die politischen Akteure darum, „Faustpfänder zu schaffen“. Sie wollen Braunschweig in den Rang einer „Gauhauptstadt“ heben.

Nachdem der Stadtrat im März 1935 die Richtlinien für die neu zu gründende Kleingarten-Kolonie veröffentlicht hatte, wissen die Kleingärtnernden der Heinrichstraße, dass sie nach der Geländebezeichnung den neuen Namen „Kleingarten-Kolonie Mutterkamp“ erhalten sollen. „Damit war der Grundstein für unsere schöne Kolonie gelegt, es erwartete jetzt die Reflektanten [Interessentinnen und Interessenten] auf diese Gartenkolonie noch schwere Aufgaben, um aus dem Domänenland eine Gartenkolonie zu bauen.“ (Redemanuskript, 20 Jahre, 1955, S. 1)

Am 16. März 1935 „wurde die Verlosung der einzelnen Parzellen vorgenommen und damit den Gartenfreunden das Besitzrecht an dem gezogenen Garten übertragen.“ (Redemanuskript, 20 Jahre, 1955, S. 2) In der Vereinschronik heißt es zum sich anschließenden Prozedere sehr anschaulich: Schon am nächsten Tage [17. März 1935] herrscht ein reges Treiben am Osthang des Nußberges. Mit Handwagen, Fahrradanhängern und Pferdewagen, wie Pioniere auf dem Treck, wurden Sträucher, Bäume und Laubenteile transportiert. Die Gartenfreunde suchen ihr neues Stück Land, sammeln Steine auf, tragen Unkraut zusammen, fangen zu graben an und viele Bebauungspläne beschäftigen die Gedanken der Erwerber.

Der kolorierte Kupferstich, der über Braunschweig und Umgebung von 1755 informiert, ist auch ästhetisch. Dies kommt dem damaligen Bildungshunger des Bürgertums nach Atlanten- und Einzelkartenpublikationen nach. Der „Prinzenpark“ entsteht (erst) ab 1895 und entwickelt sich, bis er eine Gaststätte integriert, repräsentativen Blumenschmuck, Sportstätten für Fußball und Rollschuhlauf usw. Ab 1935 wird aus Prestigegründen die Kastanienallee „hindurchgewalzt“, bis zum „Reichsjägerhof“. In der Not des Zweiten Weltkriegs braucht es dann im „Prinzenpark“ einen Feuerlöschteich und Anbaufläche für Gemüse. Foto: Stadtarchiv Braunschweig: Atlas „Die Geschichte der Stadt Braunschweig in Karten, Plänen und Ansichten“, 3.32

Am 31. März 1935 gegründete Göring-Stiftung übernimmt das Naturschutzgebiet Riddagshausen.

Der Blog zur Geschichte des KGV Mutterkamp möchte auch erzählen, was vor der Gartenpforte geschah, indem es sich parallel ereignete. Am 5. Mai 1935 hält sich der nach A. Hitler ranghöchste NS-Politiker in Riddagshausen auf – „Reichsjägermeister“ H. Göring (Warnecke 2006, S. 73) –, um westlich der Buchhorst an der heutigen Ebertallee „eine dreiflügelige Anlage als Mittelpunkt eines umfangreichen Komplexes aus mehreren historisierenden Fachwerk- und Blockhäusern“ (Mittmann 2003, S. 304) „einzuweihen“, den sog. „Reichsjägerhof Hermann Göring“.

Wie gesagt, es war Anfang/Mitte der 1930er Jahre darum gegangen, „für den Zeitpunkt der geplanten [,]Reichsreform[ʻ] Faustpfänder zu schaffen, um die Landeshauptstadt Braunschweig in den Rang einer Gauhauptstadt [Reichsgau Ostwestfalen] zu heben.“ (Bein 2000, S. 124; Bein 2014, S. 16). Deshalb waren in der Stadt Braunschweig Parteihochschulen errichtet, Wohnungs-/Siedlungsbaupilotprojekte gefördert und Bauland kostenlos vergeben worden, z. B. – für das Militär – für das Luftflottenkommando (vgl. Bein 2000, S. 124).

Aufgrund von Bevölkerungswachstum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die städtische Besiedlungsfläche ungeregelt bebaut worden, das Gebiet der städtischen Feldmark außerhalb der Wallanlagen. Eine geordnete Ausweitung erfolgte unter Stadtbaumeister Carl Tappe. Der erarbeitete im Jahre 1870 den „ERWEITERUNGSPLAN DER Stadt Braunschweig“. Im Nordosten hat Tappe den Verlauf der späteren Waterloostraße, der Humboldtstraße und Hans-Sommer-Straße projektiert. Fahr- und Feldwege wurden als „Interessentenwege der Feldmarksgenossenschaften“ bezeichnet, in städtischen Besitz übernommen und in „Communalwege“ umgewandelt. Die Stadt musste sie unterhalten. Im Gegensatz dazu mussten die herzoglichen Behörden die staatlichen Heerstraßen-Chauseen unterhalten. – Nicht alle geplanten Straßen sind jedoch auch gebaut worden. Die Riddagshäuser Domänenverwaltung stimmte wie zur Einrichtung des „Großen Exers“ ab 1824 zu, als zwischen 1895 und 1903 aus besagtem Truppenübungsplatz der Prinz-Albrecht-Park entstehen sollte, zunächst „Nussbergpark“ genannt. Foto: Stadtarchiv Braunschweig: Atlas „Die Geschichte der Stadt Braunschweig in Karten, Plänen und Ansichten“, 3.52

Großzügiges Geschenk mit politischer Absicht – „Reichsjägerhof“ in Riddagshausen

Finanzminister F. Alpersʼ großzügiges Geschenk an Göring sollte politische Ziele (be-)fördern. Die Stadt Braunschweig hatte zu diesem Zweck „das gesamte Gelände um Riddagshausen, die Teiche, die Domäne, das Waldgelände der Buchhorst und die neu von der Staatsforstverwaltung angelegten Wildparks sowie das Arboretum (ursprünglich erste forstwirtschaftliche Versuchsanstalt der Welt)“ der sog. Hermann-Göring-Stiftung zum 31. März 1935 übereignen müssen (Warnecke 2006, S. 75), obwohl die Stadt erst vor Kürzerem, nämlich am 1. April 1934, mithilfe eines Ablösungsvertrags mit dem Freistaat Braunschweig in den Besitz des Geländes gekommen war.

„Nach außen hin“ wurde argumentiert (Warnecke 2006, S. 74), dass es im sog. „Reichsjägerhof“ Wohnungen gab für die Beamten [auch Beamtinnen?] der Verwaltung des 1934 geschaffenen „Jagdgaus“ Braunschweig sowie Schulungs- und Unterrichtsräume, um die Aufgaben der Jagdbehörde und des „Gaujägermeisters“ und dessen „Stabsleiter“ zu fördern wie die Jägerschaft allgemein. Nach innen hin, also „parteiintern“, trieb vermutlich der Staatsminister für Justiz und Finanzen, „Gaujägermeister“ und „SS-Sturmbannführer“ F. Alpers den Bau zu „Ehren“ Görings voran, weil Göring sich für die Industrialisierung des Salzgittergebiets einsetzte.

Der Übersichtsplan 1915/16, Kriegsausgabe, zeigt, dass die Stadtgrenze nach Osten hinausgeschoben worden ist. Zwischen Kastanienallee und Riddagshäuser Weg war die Stadtgrenze nach Osten hinausgeschoben worden. Das Flurstück, auf dem Richard Marings Zementplatz gewesen war, wird „In den langen Stücken“ geheißen haben. Die Grundstücke weiter nördlich, begrenzt von der „Karlstraße“, heißen auf der Karte „An der Karpfenkuhle“. Ab 1907 gärtnern dort jedenfalls auf 168 Parzellen Kleingärtner:innen an der Kolonie an der verlängerten Heinrichstraße. 1933 müssen sie sich zum „Schrebergartenverein Heinrichstraße“ zwangsfirmieren. Foto: Stadtarchiv Braunschweig: Historischer Atlas der Stadt Braunschweig, 1.122; Detail: Stadtarchiv Braunschweig: Atlas „Die Geschichte der Stadt Braunschweig in Karten, Plänen und Ansichten“, 3.58

Quellen:

  • Redemanuskript (1955): „Zur 20-jährigen Gründungsfeier der Gartenkolonie ,Mutterkamp‘!“ Ohne Verfasser:in. Archiv KGV Mutterkamp, 4 Seiten. (Redemanuskript, 20 Jahre, 1955)
  • Warnecke, Burchardt (2006b): Der Braunschweiger Nußberg und seine Umgebung. Ein Stück Stadtgeschichte aus dem Osten der Stadt Braunschweig. 10. Aufl. Braunschweig: Appelhans.
  • Mittmann, Markus (2003): Bauen im Nationalsozialismus. Braunschweig, die „Deutsche Siedlerstadt“ und die „Mustersiedlung der Deutschen Arbeitsfront“ Braunschweig-Mascherode. Ursprung – Gestaltung – Analyse. Hameln: Niemeyer.
  • Bein, Reinhard (2000): Zeitzeichen. Stadt und Land/Freistaat Braunschweig 1930–1945. Braunschweig: Döring.
  • Bein, Reinhard (2014): Rahmenbedingungen der Umgestaltung Braunschweigs zu einem nationalsozialistischen Musterland. In: Unter der GrasNarbe. Freiraumgestaltungen in Niedersachsen während der NS-Diktatur als denkmalpflegerisches Thema. Hrsg. von Rainer Schomann, Michael Heinrich Schormann, Stefan Winghart, Joachim Wolschke-Bulmahn. Tagung 2014. S. 13–19. Online: https://www.cgl.uni-hannover.de/fileadmin/cgl/Forschung/Publikationen/Broschueren/Broschu__re__Unter_der_GrasNarbe_.pdf [15.12.2023]