Nr. 043: „v. g. u.“
Zeitungen des „Reichsverbands der Kleingartenvereine“ bestehen weiter. Doch sie informieren als Organe des „dt. Reichsbunds der Kleingärtner und Kleinsiedler“ nicht mehr verlässlich. Gartenvereinsprotokolle enthalten auch belastete Sprache
Die Gartenvereinsprotokolle schließen nicht alle mit der Formel des in der NS-Zeit verpflichtenden „Faschistengrußes“ (Bein 2000, S. 66), 1936 sogar „mit einem dreifachen […] auf den […]“ (11.01.1936, PB I, S. 12–14, hier S. 14; Auslassung durch die Bloggerin). Als Gfr. Albert Rünger, Nr. 103, das Protokoll unterschreibt, obwohl Gfr. Peters als „Vereinsführer“ genannt ist (ab 12.02.1936), verwendet der amtierende Schriftführer, Werner Bente, Nr. 88, eine andere Formel, nämlich: „Der Vereinsführer schließt die Versammlung um 22:50 Uhr in der üblichen Form.“ (12.02.1936, PB I, S. 14–16, hier S. 16) Gfr. Bente schreibt den Faschistengruß dann erst wieder am 12. Mai 1938 aus (12.05.1938, PB I, S. 22–23, hier S. 23). Wie erklärt sich das? Zeitmangel/Pragmatismus? Ignoranz in der Tendenz zum Überdruss? Besser gar nicht erst eine „Wertung“ und/oder „Interpretation“ versuchen?! Über die Jahre bleibt jedenfalls gleich: Der Nachname des jeweiligen Vorstands folgt der Abkürzung „v. g. u.“, was für „vorgelesen“ oder „verlesen, vorgetragen“ und „genehmigt, unterzeichnet“ stehen muss. Dann schließt sich der Nachname des Schriftführers/Protokollanten an.
Sammelbüchsen fürs „W. H. W.“
Der KGV Mutterkamp ist in die NS-Zeit eingeschrieben. Sinngemäß finden sich im Protokollbuch Sammelaufrufe für Sach- und Geldspenden an staatsabhängige Institutionen: „Für das Winterhilfswerk, macht Herr Grote [Stadtgruppenführer] darauf aufmerksam, stehen Konservenbüchsen zur Verfügung: Überfluß im Gemüse und Obst findet hier die beste Verwendung.“ (02.08.1935, PB I, S. 4–6, hier S. 6) Und die (Ernte-)Zeit drängt: „Die für das W. H. W. bestimmten Büchsen müssen schleunigst abgeliefert werden.“ (11.09.1935, PB I, S. 7–8, hier S. 8) Für Stadtgruppenführer Grote ist im Februar 1936 übrigens ein Nachfolger „eingesetzt worden, [denn] Herr Grote hat die Schulung des Kleintierwesens übernommen.“ (12.02.1936, PB I, S. 14–16, hier S. 15)
Abonnement ist Pflicht – Gartenkalender und Gartenzeitungen.
Diese Bemerkung im Protokoll klingt augenscheinlich harmlos: „Gartenkalender kommen zur Verteilung. Es können noch Exemplare nachgefordert werden, die bei den Obleuten abzuholen sind.“ (11.01.1936, PB I, S. 12–14, hier S. 14) Doch der „Deutsche Kleingartenkalender“ war vor der Gleichschaltung ein wichtiges Organ des 1921 gegründeten „Reichsverbands der Kleingartenvereine“ gewesen. Das Klientel „Arbeiter als Kleingärtner“ sah „sich in [dessen] Obhut“ (Singhof 2007, S. 18), denn der Kalender erläuterte Verbandsangelegenheiten und rechtliche Belange, insbesondere das Kleingartenschutzgesetz. Es ist wichtig, sich diese Entwicklung vor Augen zu führen: „Gartenkalender, die von der Weimarer Republik ins [,]Dritte Reich[‘] hinübergleiten, reflektieren nachhaltig den Wechsel in der Adaption des Gartenthemas: Im Abreißkalender ,Werden und Wachsen‘ wandelt sich der Garten von einem vielseitigen, phantasievollen Thema zum beschränkten, arischen Familienidyll.“ (Singhof 2007, S. 18)
„Es wird der Bezug einer neuen Zeitung ,Der deutsche Garten‘ empfohlen“.
Zwei Zeitungen sind sowieso „im Pachtbetrage einbegriffen“ und bleiben vermeintlich bestehen, und zwar „Mein Land“ [„Min Land“] und die „Reichsbundzeitung“. Doch auch darin, wie gleichfalls „[i]m ,Kleingärtner und Kleinsiedler‘ und im ,Jahrbuch für den Kleingarten‘[,] wird die Blut- und Boden-Ideologie unverblümt propagiert. Mit Heimat- und Tierschutzthemen wird versucht, Sympathie zu erzeugen.“ (Singhof 2007, S. 18) Darüber hinaus, so steht es im Februar 1936 in einem Vereinsprotokoll, „wird der Bezug einer neuen Zeitung ,Der deutsche Garten‘ empfohlen, die monatl. 79 ₰ [Deleatur-Zeichen symbolisiert die Währungseinheit Reichspfennig] kostet und 2x erscheint. Ein Exemplar soll den Mitgliedern zur Kenntnisnahme zugänglich gemacht werden.“ (12.02.1936, PB I, S. 14–16, hier S. 15)
NS-Zeit missbraucht bestehende Strukturen der Kleingärtner- und Kleinsiedlerbewegung.
Der KGV Mutterkamp bildet also keine Ausnahme. „Die Kleingärtner- und Kleinsiedlerbewegung stellt ein sehr gutes Beispiel für den Missbrauch bestehender Strukturen durch den Nationalsozialismus dar, der den Reichsverband in das ,Siedlungswerk‘ integrierte“ (Singhof 2007, S. 18), also den „Reichsverband der Kleingartenvereine Deutschlands“ (1921) vom „Reichsbund der Kleingärtner und Kleinsiedler Deutschlands e. V.“ (1933) schlucken ließ.
Quellen:
- Bein, Reinhard (2000): Zeitzeichen. Stadt und Land/Freistaat Braunschweig 1930–1945. Braunschweig: Döring.
- Protokollbuch I (1935–1962): Schrebergartenverein Mutterkamp 1935–1962. Handschriftliches Manuskript / Transkription. Archiv KGV Mutterkamp, 192 Seiten. (PB I)
- Singhof, Frank (2007): Die Entwicklung der deutschsprachigen Gartenkalender. In: Zandera. Jg. 22, Heft 1, S. 10–26 Online: https://www.jstor.org/stable/44696198 [30.11.2022]