Nr. 038: In den 1930er Jahren bilden sich in Braunschweig 17 neue Kleingartenvereine mit 999 Parzellen
Der KGV Mutterkamp ist kein Einzelfall. Stellt er allerdings die erste „Dauerkolonie“ nach der Gleichschaltung des dt. Kleingärtner- und Kleinsiedlerreichsbunds im Juli 1933 dar?
Die Kolonie an der verlängerten Heinrichstraße entstand 1907 und ging im August 1933 in den Kleingartenverein Heinrichstraße über. 1903 war der allererste Kleingärtnerverein in Braunschweig gegründet worden: der „Braunschweiger Schrebergartenverein“ in BS-Rautheim, Rautheimer Straße 1; 1974 verfügte er über 101 Parzellen (vgl. Klaffke 1974, S. 74). O. Bennemann äußerte sich darüber 1983 wie folgt: „Es gab in Braunschweig, soweit ich weiß, in jener Zeit nur eine einzige Kolonie, die nobel eingezäunt war und sehr ordentliche Häuschen und ein Gemeinschaftshaus hatte. Das war irgendwo in Rautheim.“ (nach Bein 1985, S. 150)
In den 1930er Jahren kamen in ganz Braunschweig ca. 17 neu gebildete Kleingartenvereine (mit ca. 999 Parzellen, Stand 1974) hinzu – zumindest nach dem Bestand der „Analyse des Braunschweiger Kleingartenwesens“ Mitte der 1970er Jahre (vgl. Klaffke 1974, S. 74–80). Bis 1939 und zum Zweiten Weltkrieg sollen rund 7.000 Parzellen existiert haben (Braunschweig 2023c). Wenn ich bei Kaspar Klaffke nachzähle, komme ich auf 5.807 Parzellen in Vereinen, die bis 1945 gegründet worden waren (Klaffke 1974). Es ist insofern jedoch gar nicht sinnvoll, sich an der Kleingartenwesen-Analyse aus den 1970er Jahren zu orientieren, als darin Vereine fehlen, die sich vor 1974 aufgelöst haben oder bis zu diesem Zeitpunkt aufgelöst wurden. Für einen ungefähren Überblick reicht diese ungenaue Statistik allemal.
Politisch-ideologisch motivierte Städteplanung in der NS-Zeit widerspricht dem Ansatz, Dauerkolonien auszuweisen.
Dass die Stadt Braunschweig im Jahr 1935 den Begriff „Dauerkolonie“ verwendete, was aus der BLZ-Meldung hervorgeht, ist in jedem Fall schwierig. Der Ausdruck „Dauerkolonie“ weckte bei den Kleingärtnernden schließlich Erwartungen auf eine Bestandsgarantie. Die politisch-verwaltenden Akteure waren jedoch womöglich nicht gewillt, diese Bestandsschutzgarantie zu geben. NS-Politiker F. Seldte, Reichsarbeitsminister, verbrämte diesen Widerspruch (denn auch) in einer Rede von 1939 „vor den deutschen Kleingärtnern“ propagandistisch (zitiert nach BDG 1996, S. 210). Damit meine ich, dass der Politiker (bloß) „Verständnis“ vorschützt für den Verdruss von Kleingärtnernden, deren Kolonien zwangsgekündigt werden.
Bleiben Gärten auf Dauer? „[W]eil keine klare, ausreichende städtebauliche Planung vorhanden war“, kann es keine Bestandsschutzgarantie geben.
Der Reichsarbeitsminister formuliert der kleingärtnernden Klientel gegenüber sympathisierend: „Ein großer Fehler ist bei der Errichtung von Kleingärten im [Ersten Welt]Kriege und in der Nachkriegszeit gemacht worden, unter dessen Auswirkungen Sie, meine lieben Kleingärtner, auch heute noch leiden: In der richtigen Erkenntnis, daß Kleingärten in möglichster Nähe der Wohnungen für die Familien besonders wertvoll und zweckdienlich sind, haben die Bewerber sich darum bemüht, vor allem nahegelegenes Land zu erhalten. Sie haben hierbei aber nicht darauf geachtet, ob die Gärten auch für die Dauer an diesen Stellen erhalten bleiben würden. Sie konnten dies auch gar nicht, weil keine klare, ausreichende städtebauliche Planung vorhanden war. … Die Kleingärtner sehen in dem Garten mit Recht ein Stück Lebensarbeit und werden es niemals verstehen, wenn Kleingartenland ohne zwingenden Grund anderen Zwecken geopfert wird.“ (zitiert – inkl. Auslassung – nach BDG 1996, S. 210)
„Liegt nun ein dringendes Bedürfnis vor?“
Der Vereinsvorstand des „Schrebergartenvereins Heinrichstraße“, Richard Geibel, beklagt sich bei Oberbürgermeister Hesse am 23. April 1934: „Ich habe gesagt, dass der Verpächter [Fricke] bei seiner Kündigung als Grund die Arbeitsbeschaffung ins Treffen führte. Der Reichsbund der Kleingärtner unter Führung des Herrn Dr. Kammler sagt uns Kleingärtnern aber immer wieder, dass uns unser Garten nur genommen werden darf, wenn ein dringendes Bedürfnis vorliegt.
Liegt nun ein dringendes Bedürfnis vor? Wir Pächter meinen, dass wir in Braunschweig Gelegenheit übergenug hätten, um etwaige Bauvorhaben ausführen zu können. Wir haben Bauplätze für Einfamilienhäuser an bereits befestigten kanalisierten Strass in grosser Auswahl. Die grosszügige Erschliessung an den verschiedensten Stellen gibt jedem Baulustigen ausreichend Gelegenheit, ein Eigenheim zu erstellen.“ (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934, Seite 2)
Verlust von Gärten „im Interesse höherer städtebaulicher Gesichtspunkte“
Sinngemäß antwortet die Braunschweiger Stadtverwaltung am 25. April / 8. Mai 1934 auf den Klagebrief: „Selbstverständlich ist es auch unser Bestreben, die Kleingartenkolonien heute so anzuordnen, dass sie als Teile von Dauergrünflächen in ihrem Bestande gesichert sind und erst die rechte Befriedigung und Bodenverbundenheit bei dem einzelnen Kleingärtner ermöglichen; wir bedauern lebhaft, dass die vorhandene schöne Kolonie Heinrichstrasse nicht in den Grünflächenplan einbezogen werden kann, wie es bei vielen anderen Kolonien möglich sein wird. Wir müssen Sie deshalb bitten, im Interesse höherer städtebaulicher Gesichtspunkte sich mit dem Gedanken des Verlustes Ihrer Gärten vertraut zu machen.“ (Freigabe Grundstück Fricke für Bebauung, keine Ausweisung als Dauergrünfläche aus Kostengründen, April/Mai 1935)
Quellen:
- Klaffke, Kaspar (1974): Kleingärten. Analyse des Braunschweiger Kleingartenwesens. Braunschweig: Stadt Braunschweig, hier „Tab. 8.2 Verzeichnis der Kleingartenanlagen in der Stadt Braunschweig nach Name des Vereins, Organisation, Gründungsjahr, Anzahl der Parzellen und Flächengröße sowie verschiedenen anderen für die Planung wichtigen Strukturmerkmalen“, S. 74–80
- Bein, Reinhard (1985): Braunschweig. Stadt und Herzogtum 1890–1918. Materialien zur Landesgeschichte. Braunschweig: Döring.
- Stadt Braunschweig (2023c): Kleingärten in Braunschweig. Das Kleingartenwesen in Braunschweig. Online: https://www.braunschweig.de/leben/im_gruenen/kleingaerten/index.php [11.10.2023]
- BDG / Bundesverband Deutscher Gartenfreunde e. V. (1996) (Hrsg.): Kleingärten und Kleingärtner im 19. und 20. Jahrhundert. Bilder und Dokumente. Von Günter Katsch und Johann B. Walz. Herausgegeben vom Bundesverband Deutscher Gartenfreunde anläßlich des 75. Jahrestages der Gründung des Reichsverbandes der Kleingartenvereine Deutschlands 1921. 2. Aufl. Leipzig.
- Geibel, Richard (23.04.1934): „Schrebergartenverein Heinrichstraße. Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Liegt nun ein dringendes Bedürfnis vor?“ Typoskript. Stadtarchiv Braunschweig: Signatur E 66: 414; 3 Seiten. (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934)
- C 2/Rbm.Dir./My. (25.04.1934/08.05.1934): 1) An den Schrebergartenverein Heinrichstrasse, z. Hd. Des Herrn Richard Geibel, hier. Kl. Campestrasse 9. Typoskript. Stadtarchiv Braunschweig: Signatur E 66: 414; 1 Seite. (Freigabe Grundstück Fricke für Bebauung, keine Ausweisung als Dauergrünfläche aus Kostengründen, April/Mai 1935)