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Nr. 028: 1907 hat sich die Vorläuferkolonie an der Heinrichstraße gegründet

Nr. 028: 1907 hat sich die Vorläuferkolonie an der Heinrichstraße gegründet

Die Kleingärtnernden des Gartenvereins Mutterkamp sind keine Neulinge. In der Vorläuferkolonie an der verlängerten Heinrichstraße hatten sie schon seit 1907 Parzellen besessen. Praktische Erfahrungen bewahren nicht davor, in der NS-Zeit gleichgeschaltet zu werden und sich gleichschalten zu lassen.

Wie gingen die Kleingärtnernden des Gartenvereins Mutterkamp mit dem Begriff Musterkolonie um? War er eine Zuschreibung? Oder entsprach der Begriff dem Selbstverständnis und der „Identität“ der neu entstehenden Kleingartenkolonie? Wollten die Gartenliebhaber und Gartenliebhaberinnen im Sinne der damaligen Werte mustergültig erscheinen, also Teil der „Erzeugungsschlacht“ und „Ernährungssicherung“ (vgl. BDG 2021, S. 75) sein? Verschrieben sie sich ganz bewusst der agrarpolitischen „Blut und Boden“-Ideologie (vgl. Appel/Grebe/Spitthöver 2011, S. 29)? Wie frei in ihrem Willen und Tun konnten die Kleingärtnernden 1935 überhaupt – noch – sein?

Lageplan 1935 [undatiert]: KLEINGÄRTEN IM MUTTERKAMP. STÄDT. HOCHBAUNAMT, DEN XXXX. Archiv KGV Mutterkamp. Foto: Archiv KGV Mutterkamp
117 Gärten sind zu erkennen. Lageplan Kleingärten im Mutterkamp (1935). Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.

„Besondere Umstände haben Veranlassung gegeben, daß blühende Gartenkolonien aufgegeben werden“ mussten.

Nach Ablauf des ersten Geschäftsjahrs 1935/36 verfasst der damalige Vereinsvorstand Wilhelm Peters, Garten Nr. 116, den „1. Geschäftsbericht des Gartenvereins ,Mutterkamp‘“, „der allen Mitgliedern des Vereines zuvor vervielfältigt zugegangen ist“ – so steht es am 11. Januar 1936 im Protokoll (11.01.1936, PB I, S. 12–14, hier S. 12). Der Geschäftsbericht liegt in einer Abschrift von 1951 vor. Damals war man darauf bedacht, den Unmut der Kleingärtnernden zu kaschieren, von ihren Parzellen der alten Kolonie an der Heinrichstraße vertrieben worden zu sein.

Dementsprechend klingt der Unterpunkt „Vorgeschichte“ im Geschäftsbericht 1936 umständlich-gewunden, nämlich: „Besondere Umstände haben Veranlassung gegeben, daß blühende Gartenkolonien aufgegeben werden müßten [sic]. Schweren Herzens mußten sich die Pächter von der ihnen lieb gewordenen Scholle trennen. Wenn auch Ersatzland zur Verfügung gestellt wurde, war jedem Gartenfreund bewußt, was er verlor, aber auch, welche Opfer er bringen mußte, um wieder das zu erreichen, was er an seinem Garten besessen hatte.“ (1. Geschäftsbericht, 1935, S. 8) Der Begriff „Scholle“ ist dabei typisch für die NS-Zeit, denn „das dauernde Verbundensein mit der heimatlichen Scholle“ ginge „der Erhaltung und Entwicklung eines Volkes“ voraus: „Bäuerliches Denken und Fühlen und Stolz über Miteigentum und Mitbewirtschaftung am deutschen Boden muss die Grundlage der völkischen Einstellung sein.“ (vgl. LSK 2007, S. 198)

Lageplan 1946 [Dezember 1951/Stand vom 1. Mai 1946]: Lageplan der Kleingartenkolonie „Mutterkamp“. Archiv KGV Mutterkamp. Foto: Archiv KGV Mutterkamp
119 Gärten sind zu erkennen. Lageplan 1946 [Dezember 1951/Stand vom 1. Mai 1946]: Lageplan der Kleingartenkolonie „Mutterkamp“. Foto: Archiv KGV Mutterkamp

„Pächtergemeinde“ der Vorläuferkolonie besteht aus „Hand- und Kopfarbeitern“

Diese Sprache bildet sich auch im Brief des Vorstands des „Schrebergartenvereins Heinrichstraße“ ab. Richard Geibel schreibt am 23. April 1934 an OB Dr. Hesse, um über die Umstände der Kündigung des „Fricke‘schen Geländes“ zu informieren: „Wir bearbeiten unser Stückchen Land als Regierungsrat oder Schlosser, neben der Witwe des Geheimrats gräbt der arbeitslose Volksgenosse.“ (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934, Seite 1) Geibel bedient sich dieser Sprache und argumentiert damit: „Der Reichsbund der Kleingärtner unter Führung des Herrn Dr. Kammler sagt uns Kleingärtnern aber immer wieder, dass uns unser Garten nur genommen werden darf, wenn ein dringendes Bedürfnis vorliegt. Liegt nun ein dringendes Bedürfnis vor? … Warum will man uns von unserer Scholle vertreiben, die wir erst durch mühevolle Arbeit zu dem gemacht haben, was sie heute ist? Es ist für einen Kleingärtner eine schwere Bedrückung, wenn er nicht weiss, ob er von dem Samenkorn, das er heute legt, in sechs Monaten auch noch erntet.“ (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934, Seite 2)

Der KGV Mutterkamp – geplante „NS-Vorzeigekolonie“, die sich (aber) auswachsen wird in „eine gewachsene Kolonie“ (Bohnhorst 1985b, S. 4)?

Der Gartenverein Mutterkamp hat zum Zeitpunkt seiner Gründung 1935 also durchaus eine Art „Identität“ und ein Selbstverständnis besessen, denn „[d]ie Frauen und Männer der ersten Stunde[,] sind ja nicht alle Anfänger gewesen, sondern vertriebene Kleingärtner aus dem Bereich der verlängerten Heinrichstr.“ (Bohnhorst 1985b, S. 1 f.) So schreibt es Hans Bohnhorst, Garten Nr. 47[?], 1985 anlässlich des 50. Vereinsjubiläums. Ein Jahr später beendete Bohnhorst übrigens sein langjähriges Engagement als Vereinsvorstand (1968–1986). In den Archivalien war er erstmals im Februar 1957 als (einstimmig) neu gewählter „Fachberater“/„Gartenwart“ aufgetaucht: „Schlosser Hans Bohnhorst, Braunschweig, Ernst Abbe-Weg 3“ (Eintrag Vereinsregister, 1957).

Peters, Wilhelm (1951b): „Abschrift! Namen der Gründungsmitglieder der Kleingarten-Kolonie Mutterkamp“. Archiv KGV Mutterkamp. 1 Seite. (Abschrift Gründungsmitglieder, 1951). Foto: Archiv KGV Mutterkamp
Der 118. und der 119. Garten ist hinzugekommen. Als Gründungsmitglieder gelten 118 Gartenfreundinnen und Gartenfreunde. Peters, Wilhelm (1951b): „Abschrift! Namen der Gründungsmitglieder der Kleingarten-Kolonie Mutterkamp“. Archiv KGV Mutterkamp. 1 Seite. (Abschrift Gründungsmitglieder, 1951). Foto: Archiv KGV Mutterkamp

Zunächst 118 Gartenfreundinnen und Gartenfreunde

Der Geschäftsbericht von 1935 führt alle Gründungsmitglieder mit dem Nachnamen und der Gartennummer auf (Abschrift Gründungsmitglieder, 1951) – von Friedrich, Nr. 1, bis zu Ebert, Nr. 118 – und bestätigt, dass viele Kleingärtnernde in den Nachfolgerverein gewechselt haben: „In nächster Nähe der Stadt wurde am sogenannten Mutterkamp vom Rat der Stadt Ersatzland zur Verfügung gestellt. Wie es nicht anders zu erwarten war, haben fast alle Gartenfreunde, die ihren Garten aufgeben müßten [sic], die Gelegenheit benutzt, um in der neu zu gründenden Kolonie ein Stück Land zu erwerben.“ (1. Geschäftsbericht, 1935, S. 8)

Quellen:

  • BDG / Bundesverband Deutscher Gartenfreunde e. V. (2021) (Hrsg.): Die ersten 100 Jahre. Die Verbandsgeschichte des deutschen Kleingartenwesens. Von Catharina Paetzelt. Berlin 2021.
  • Appel, Ilka und Christina Grebe und Maria Spitthöver (2011): Aktuelle Garteninitiativen. Kleingärten und neue Gärten in deutschen Großstädten. Kassel. Online: https://www.uni-kassel.de/upress/online/frei/978-3-86219-114-7.volltext.frei.pdf [06.10.2023]
  • Protokollbuch I (1935–1962): Schrebergartenverein Mutterkamp 1935–1962. Transkription. Archiv KGV Mutterkamp, 192 Seiten. (PB I)
  • Peters, Wilhelm (1935): „ Geschäftsbericht des Gartenvereins ,Mutterkamp‘“. Archiv KGV Mutterkamp. 2 Seiten. (1. Geschäftsbericht, 1935)
  • Landesverband Sachsen der Kleingärtner e. V. (LSK) (2007): Geschichte des Kleingartenwesens in Sachsen. Zum 100-jährigen Jubiläum der Gründung des „Verbandes von Garten- und Schrebervereinen“ 1907. Dresden. Online: http://www.kv-aue.de/vhp/20015/dokumente/geschichte_des_kleingartenwesens_in_sachsen.pdf [24.12.2023]
  • Bohnhorst, Hans (1985b): 50 Jahre Kglv. Mutterkamp. Liebe Gartenfreundinnen, liebe Gartenfreunde, liebe Gäste. Handschriftliche Notizen zum 50-jährigen Vereinsjubiläum, S. 1–6. Archiv KGV Mutterkamp.
  • Amtsgericht Braunschweig (05.02.1957): Amtsgericht 36. Gesch.-Nr.: VR. 744/26. Eintrag ins Vereinsregister. 1 Seite. Archiv KGV Mutterkamp. (Eintrag Vereinsregister, 1957)
  • Peters, Wilhelm (1951b): „Abschrift! Namen der Gründungsmitglieder der Kleingarten-Kolonie Mutterkamp“. Archiv KGV Mutterkamp. 1 Seite. (Abschrift Gründungsmitglieder, 1951)
  • Geibel, Richard (23.04.1934): „Schrebergartenverein Heinrichstraße. Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Liegt nun ein dringendes Bedürfnis vor?“ Typoskript. Stadtarchiv Braunschweig: Signatur E 66: 414; 3 Seiten. (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934)