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Nr. 027: Kleingärtnernde im KGV Mutterkamp denunzieren einander

Nr. 027: Kleingärtnernde im KGV Mutterkamp denunzieren einander

Die sog. Schade-Gruppe nutzte eine Gartenlaube als Versammlungsort. Der Widerstand „privatisiert“ sich in Braunschweig früher als im übrigen Deutschland.

Bis April 1933 erfolgte die Nazifizierung der Braunschweiger Justiz (Bein 1982, S. 293), im gleichen Monat fand eine Terroraktion gegen von jüdischen Braunschweigerinnen und Braunschweigern geführte Läden statt – der erste reichsweit organisierte Terrorakt gegen jüdische Geschäfte (vgl. Wettern 2021, S. 81). Das „Braunschweiger Sondergericht“ wurde geschaffen, um Schnelljustiz betreiben zu können. Diese „Institution“ symbolisiert, welches Ausmaß der NS-Überwachungs- und Verfolgungsapparat hatte und wie ausgeprägt es (auch) war, Mitbürgerinnen und Mitbürger zu verunglimpfen: 7.000 Personen kamen zwischen 1933 und 1945 mit diesem „Instrument der politischen Unterdrückung“ in Berührung (vgl. Wettern 2021, S. 129).

Archivalien Stadtarchiv Braunschweig_20200114_102158. Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.
Aktendeckel eines weiteren Archivguts über den Kleingartenverein Mutterkamp e. V. im Stadtarchiv Braunschweig. Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.
Aktendeckel eines weiteren Archivguts über den Kleingartenverein Mutterkamp e. V. im Stadtarchiv Braunschweig. Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.
In dieser Mappe im Braunschweiger Stadtarchiv befinden sich die Zeugnisse des Vorläufervereins "Schrebergartenverein Heinrichstraße". Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.

Nichtspenderinnen und Nichtspender von Obst werden namentlich kenntlich gemacht – angeprangert.

Diejenigen galt es zu melden, die sich an zeittypische Vorschriften nicht hielten. „Denunziantentum“ lässt sich im KGV Mutterkamp aus folgenden Notizen im Protokollbuch herauslesen: 1942 dankt der „Vereinsführer“ (noch) „für die Spenden von Beerenobst für die Verwundeten.“ (12.04.1942, PB I, S. 32–34, hier S. 32) In einer dementsprechend positiven Haltung ist 1943 protokolliert: „Viel Obst ist im letzten Jahre abgeliefert worden an das Lazarett „Am Sandweg“ [ab 1952 „Magnitorwall“]. Wir sind mit dem Ergebnis recht zufrieden. Denn wir sind von der letzten Stelle in die 2. gekommen.“ (07.03.1943, PB I, S. 35–36, hier S. 35)

Im August 1943 schwingt dann erheblicher Druck mit, als Gartenverein ein ganz bestimmtes Bild abgeben zu sollen: „Die Abgabe von Obst ist im ganzen gut gewesen. Mitglieder, welche nichts abgeliefert haben, werden durch Anschlag in den Kästen bekannt gegeben.“ (28.08.1943, PB I, S. 37–38, hier S. 37) Es wird also eine öffentlich einsehbare und öffentlichkeitswirksame Auflistung von Spenderinnen und Spendern gegeben haben.

Kiste Archivmaterialien KGV Mutterkamp e. V. Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.
Kiste mit Archivmaterialien. Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.

Politische Gesprächsgruppen in Schrebergärten verstummen – keine „Öffentlichkeitsarbeit“ mehr.

Am 4. Juli 1933 wurden elf Gewerkschafter in Rieseberg bei Königslutter am Elm auf dem „Pappelhof“, Jugendbildungsstätte des Gewerkschaftsbunds, ermordet. Unter diesem Eindruck „erlahmte der Widerstand in Braunschweig. Zwar gab es bis 1935 noch relativ viele Gesprächsgruppen, die sich in Badeanstalten oder Schrebergärten trafen, aber nur wenige wagten noch Öffentlichkeitsarbeit.“ (Bein 2000, S. 63; vgl. Jacobs 2001, S. 56–58) Die sog. Keune-Gruppe um Robert Keune, einem Schriftsetzer, nutzte eine Gartenlaube [Wo genau?] als Versteck für eine Abzugmaschine von Wachsmatrizen. Mittels Schreibmaschine oder handschriftlich wird eine seitenverkehrte, farbintensive Kopie eines Originals hergestellt, auf einer mit speziellem Wachs beschichteten Folie (Druckvorlage). Diese Matrize wird auf eine Trommel gespannt und ein mit Spiritus befeuchtetes Papier dagegen gedrückt, sodass ein Teil der Wachsfarbe herausgelöst und auf das Papier übertragen wird. Die Gruppe veröffentlichte monatlich eine zwei- bis vierseitige Zeitung sowie Flugblätter. Die Informationen bezogen sich auf Ereignisse in Braunschweig, die in anderen Medien nicht berichtet werden durften, beispielsweise über die Arbeitsweise der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) oder die Nähe von Betrieben zur NS-Organisation „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF), Nachfolgevereinigung der verbotenen Gewerkschaften (vgl. Bein 2000, S. 75). Schon im Herbst 1933 setzte „der Prozeß der Privatisierung des Widerstandes und der Weg in die innere Emigration ein“ – in Braunschweig „frühzeitiger als im übrigen Reichsgebiet“ (Bein 1982, S. 301).

Quellen:

  • Bein, Reinhard (1982): Nationalsozialismus und Arbeiterbewegung im Freistaat Braunschweig zwischen 1930 und 1935. In: Moderne Braunschweigische Geschichte. Hrsg. von Werner Pöls und Klaus Erich Pollmann. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms, S. 285–306.
  • Wettern, Michael (2021): Entwicklung von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Braunschweig. Braunschweig: Appelhans.
  • Protokollbuch I (1935–1962): Schrebergartenverein Mutterkamp 1935–1962. Transkription. Archiv KGV Mutterkamp, 192 Seiten. (PB I)
  • Bein, Reinhard (2000): Zeitzeichen. Stadt und Land/Freistaat Braunschweig 1930–1945. Braunschweig: Döring.
  • Jacobs, Reinhard (2001): Terror unterm Hakenkreuz – Orte des Erinnerns in Niedersachsen und Sachen-Anhalt. Studie im Auftrag der Otto Brenner Stiftung. Online: https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AH20_Erinnerungsorte_Jacobs_2001_03_14.pdf [30.11.2023]