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Nr. 025: Wo vormals die Kolonie an der Heinrichstraße lag, lebt gehobenes und mittleres Bürgertum

Nr. 025: Wo vormals die Kolonie an der Heinrichstraße lag, lebt gehobenes und mittleres Bürgertum

Gärtnert im KGV Mutterkamp weder die Oberschicht noch die Arbeiterschaft?

Es ist anzunehmen, dass der bürgerliche Mittelstand tendenziell offener fürs Kleingärtnern war, als es die bürgerliche Oberschicht gewesen war. Und in diesem Sinne entwickelte sich das Wohngebiet um die St.-Pauli-Kirche. Zog mit „Mietparteien vieler mittlerer und gehobener Beamten, Oberlehrer, Justizinspektoren“ tendenziell „kleingärtnerinteressierteres“ Klientel zu? „Personen, die ihr Rentenkapital verleben konnten, zogen sich aus dem Quartier zurück und die Anzahl von ökonomischen Führungsgrößen (wie Großkaufleute, Unternehmer, Bankiers, Ärzte, Rechtsanwälte, Höhere Beamte, Wissenschaftler und hochrangige Künstler) nahm deutlich ab. Die Mitglieder bürokratischer Führungsgruppen (z. B. höher[e] Beamte) blieb[en] verhältnismäßig unberührt, während akademische Freiberufler verstärkt in die von der Oberschicht allmählich freigegebenen Wohnungen drängten. Damit bewohnten Mitglieder des bürgerlichen Mittelstandes das Wohnquartier.“ (Wettern 2021, S. 67 f.)

Archivalien Stadtarchiv Braunschweig_20200114_102158. Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.
Historische Informationen über den Kleingartenverein Mutterkamp e. V. Die Archivalien sind in den Lesesaal des Stadtarchivs Braunschweig bestellbar. Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.

„Im Östlichen“ vertreten: Großbürgertum – gehobenes Bürgertum – mittleres Bürgertum – Kleinbürgertum – die Arbeiterschaft

Das soziale Gefälle der Bevölkerung lässt sich an spezifischen Wohnvierteln erkennen. Das östliche Ringgebiet lässt sich „als ein nach beiden Seiten gleichmäßig abfallendes Dach“ beschreiben (vgl. Roloff 1985), als Zentralachse die Kaiser-Wilhelm-Straße um St. Pauli. Dort konzentrierte sich das Großbürgertum, „südlich davon, in der Fasanen- und Husarenstraße, und nördlich, entlang der Waterloo-, zwischen Dörnberg-, Wachholtz- und Heinrichstraße, später in den stadtparknahen Vierteln um die Wilhelm-Bode-Straße, schlossen sich die Wohnungen des gehobenen, und daran die des mittleren Bürgertums an; um die Nußberg- und Comenius- sowie von der Wabe- und Schunterstraße ab dominierte das typische Kleinbürgertum, bis dann in der Karl- und Marienstraße die Arbeiterviertel erreicht waren, in denen bis in die 30er Jahre hinein auch Konservenfabriken und andere Gewerbebetriebe lagen.“ (Roloff 1985, S. 105)

Vorläuferverein von 1907 kennzeichnet eine „Pächtergemeinde“ aus „Hand- und Kopfarbeitern“

Spiegeln sich die Überlegungen zur Sozialstruktur des Wohngebiets in der Zusammensetzung der Mitglieder des KGV Mutterkamp wieder?

Über die Vorläufer – die Kolonie an der verlängerten Heinrichstraße auf dem „Fricke’schen Gelände“, ab August „Schrebergartenverein Heinrichstraße“ – informiert der dreiseitige Brief des „Vereinsführers“ Richard Geibel vom 23. April 1934 an den damaligen Oberbürgermeister Dr. Wilhelm Hesse nach der Kündigung der Pacht: Eine „Pächtergemeinde“ aus „Hand- und Kopfarbeitern“ habe sich seit 1907 auf einem Gebiet von 3,1 Hektar zwischen dem Franzschen Felde und dem sog. Adamsgraben zusammengefunden, um letztlich in 168 Kleingärten zu gärtnern. „Wir bearbeiten unser Stückchen Land als Regierungsrat oder Schlosser, neben der Witwe des Geheimrats gräbt der arbeitslose Volksgenosse.“ (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934, Seite 1)

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten Beamtinnen und Beamte dessen zweitgrößte Mitgliedergruppe. Dies lässt sich aus dem Protokoll zur Jahreshauptversammlung am 18. Februar 1951 im Restaurant „Gliesmaroderturm“ entnehmen: „Der Verein setzt sich aus folgenden [119] Mitgliedern zusammen: Invaliden, Schwerkriegsbeschädigte u Witwen 38 [31,9 %]; Beamte 30 [25,2 %]; Arbeiter 17 [14,3 %]; Selbständige 16 [13,5 %]; Angestellte 15 [12,6 %]; Erwerbslose 3 [2,5 %]“ (18.02.1951, PB I, S. 78–81, hier S. 79). Im KGV Mutterkamp ist demnach nichts von einer gärtnernden Oberschicht zu lesen. Und der Verein steht gleichfalls nicht in der Tradition eines Arbeitervereins.

Mitgliederstatistik im Vereinsprotokoll vom 18 Februar 1951 Seite 2 Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.
Mitgliederstatistik im Vereinsprotokoll vom 18. Februar 1951, Seite 2. Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.

1951 die größte Mitgliedergruppe im KGV Mutterkamp: Invaliden, Schwerkriegsbeschädigte und Witwen – Die zweitgrößte Mitgliedergruppe? Beamtinnen und Beamte

Arbeiterinnen und Arbeiter werden (jedoch) zur idealtypischen Klientel eines Kleingartenvereins gezählt, „eingebettet in eine sozialistisch ausgerichtete und geprägte Subkultur“. Zu dieser „in einem Jahrhundert gewachsenen Arbeiterkultur“ gehörte idealtypischerweise: „Sie hatten ihren Kleingarten“. (Bein 1982, S. 297) Die Familie von Otto Bennemann, Politiker der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), u. a. Oberbürgermeister von Braunschweig (1948–52, 1954–59) und niedersächsischer Innenminister, hatte beispielsweise „[einen Viertelmorgen] ,Grabeland‘ – eine Vorform des Schrebergartens“ (Grabenhorst 1991, S. 14; Jarck 2015, S. 16) Wo genau? Bennemann erinnerte sich 1983 (nach Bein 1985, S. 150): „Der Schrebergarten war für alle Arbeiterfamilien, die mit uns lebten, eine wichtige Ergänzung zu den kärglichen Löhnen. Alle hatten deshalb irgendwo einen Viertelmorgen Land. Wir bebauten relativ gutes Land, das tüchtige Erträge brachte. Wir hatten Gemüse noch und noch, vom Frühjahr bis zum Herbst, wir deckten die gesamte Versorgung mit Frischgemüse aus dem Schrebergarten.“

Quellen:

  • Wettern, Michael (2021): Entwicklung von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Braunschweig. Braunschweig: Appelhans.
  • Roloff, Ernst-August (1985): 100 Jahre Bürgertum in Braunschweig. I. Teil. Von der Jasperallee zur Kaiser-Wilhelm-Straße. Ein historischer Spaziergang. Braunschweig: Hans Oeding.
  • Protokollbuch I (1935–1962): Schrebergartenverein Mutterkamp 1935–1962. Transkription. Archiv KGV Mutterkamp, 192 Seiten. (PB I)
  • Bein, Reinhard (1982): Nationalsozialismus und Arbeiterbewegung im Freistaat Braunschweig zwischen 1930 und 1935. In: Moderne Braunschweigische Geschichte. Hrsg. von Werner Pöls und Klaus Erich Pollmann. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms, S. 285–306.
  • Grabenhorst, Carsten (1991): Otto Bennemann. Beitrag zu einer politischen Biographie. Braunschweig 1991.
  • Jarck, Horst-Rüdiger (2015): Von Milieu, Widerstand und politischer Verantwortung. Otto Bennemann (1903 – 2003). Braunschweig: Joh. Heinr. Meyer Verlag.
  • Bein, Reinhard (1985): Braunschweig. Stadt und Herzogtum 1890 – 1918. Materialien zur Landesgeschichte. Braunschweig: Döring.
  • Geibel, Richard (23.04.1934): „Schrebergartenverein Heinrichstraße. Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Liegt nun ein dringendes Bedürfnis vor?“ Typoskript. Stadtarchiv Braunschweig: Signatur E 66: 414; 3 Seiten. (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934)