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Nr. 024: Nach welchen Kriterien werden im März 1935 die neuen Parzellen verlost – und an wen?!

Nr. 024: Nach welchen Kriterien werden im März 1935 die neuen Parzellen verlost – und an wen?!

Nach dem Ersten Weltkrieg siedelt sich „im Östlichen“ der bürgerliche Mittelstand an – anstatt der Oberschicht. Nimmt dort in den 1930er Jahren also das potenziell kleingärtnerinteressierte Klientel zu?

Historische Fotoabzüge, undatiert. Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.
Historische Fotoabzüge, undatiert. Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.

An diesem Tage [16. März 1935] sind im Stadtparkrestaurant die Gartenliebhaber versammelt und 117 Gärten werden verlost. Wie organisierte sich „[d]ie Vergebung der Gärten“ (BLZ 13.03.1935)? Durften prinzipiell alle ehemaligen Pächterinnen und Pächter des „zwangsgekündigten“ KGV Heinrichstraße an der Verlosung der Gärten für den KGV Mutterkamp teilnehmen? Oder lenkte die Braunschweiger Landesgruppe des dt. Kleingärtner- und Kleinsiedlerreichsbunds die Vergabe? Hatte es im KGV Heinrichstraße wohl jüdische Gartenfreundinnen und Gartenfreunde gegeben? Ausgerechnet beim auf dem Braunschweiger Nussberg stattfindenden (zweiten) Reichskleingärtnertag vom 26. bis 28. Juli 1935 sprach der seit 1933 von der NSDAP eingesetzte „Führer“ des Reichsbunds deutscher Kleingärtner- und Kleinsiedler, Architekt H. Kammler, offen von einer geplanten „Selektion“ unter den Kleingärtnerfamilien (vgl. LSK 2007, S. 190).

Kleingartenwesen in der NS-Zeit – „von Anfang an bevölkerungs-, ernährungs- und militärpolitisch einbezogen“ (LSK 2007, S. 189)

Nach der „Machtübernahme“ fand in der NS-Zeit „legalisierter Raub“ statt (vgl. Wettern 2021, S. 112), indem die Parzellen in Kleingartenkolonien „arisiert“ wurden. Die Kleingärtner- und Kleinsiedlerbewegung wurde nach konkreten Aspekten der ,Rassen‘-Ideologie ins Gesellschaftssystem eingebunden (vgl. LSK 2007, S. 190). Der deutsche Kleingärtner- und Kleinsiedlerreichsbund stellte 1937 im „Fragebogen für den Bewerber um einen Kleingarten“ die Frage, ob man deutscher Reichsangehöriger sei (vgl. BDG 1996, S. 49). Obwohl Deutsche jüdischen Glaubens sich demnach erst 1937 nicht mehr als Reichsangehörige bezeichnen durften, wurden sie schon davor drangsaliert und entrechtet. Als Gartenliebhaber und Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Verlosung am 16. März 1935 werden jüdische Braunschweigerinnen und Braunschweiger wohl nicht infrage gekommen sein – gleichgültig, ob sie zuvor Gärten in der alten Kolonie an der Heinrichstraße gepachtet haben mögen oder nicht. (Das ist eine offene Forschungsfrage.)

Protokollbücher Außenansicht. Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.
Protokollbücher Außenansicht. Foto: Archiv KGV Mutterkamp e. V.

Sozialstrukturelle Entwicklung rund um die Paulikirche

Braunschweigerinnen und Braunschweiger jüdischen Glaubens wohnten jedenfalls mit im Viertel. Gut möglich, dass manche Kleingärten bewirtschafteten. „Kurz vor dem Ersten Weltkrieg lebten fast ein Fünftel der Braunschweiger Juden im Braunschweiger Wohnbereich um die Paulikirche im östlichen Ringgebiet“ (Wettern 2021, S. 81). Schon der Erste Weltkrieg hatte die Sozialstruktur „des Östlichen“ verändert: „Zwar bewohnte das Quartier um die Braunschweiger Paulikirche eine bürgerliche Gesellschaft mit seinerzeit bekannten und bedeutenden Juden. Allerdings hatten sich in drei Jahrzehnten seit der Errichtung der Häuser [an der damaligen Kaiser-Wilhelm-Straße und heutigen Jasperallee] die Klientel sehr verändert. Die durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Veränderungen bewirkten eine deutliche Verschiebung in der Bewohnerzusammensetzung“ (Wettern 2021, S. 67).

Quellen:

  • BLZ (Braunschweigische Landeszeitung) (13.03.1935): „Eine neue Kleingarten=Kolonie“. Nachabdruck. Archiv KGV Mutterkamp.
  • Landesverband Sachsen der Kleingärtner e. V. (LSK) (2007): Geschichte des Kleingartenwesens in Sachsen. Zum 100-jährigen Jubiläum der Gründung des „Verbandes von Garten- und Schrebervereinen“ 1907. Dresden. Online: http://www.kv-aue.de/vhp/20015/dokumente/geschichte_des_kleingartenwesens_in_sachsen.pdf [24.12.2023]
  • Wettern, Michael (2021): Entwicklung von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Braunschweig. Braunschweig: Appelhans.
  • BDG / Bundesverband Deutscher Gartenfreunde e. V. (1996) (Hrsg.): Kleingärten und Kleingärtner im 19. und 20. Jahrhundert. Bilder und Dokumente. Von Günter Katsch und Johann B. Walz. Herausgegeben vom Bundesverband Deutscher Gartenfreunde anläßlich des 75. Jahrestages der Gründung des Reichsverbandes der Kleingartenvereine Deutschlands 1921. 2. Aufl. Leipzig.