Nr. 023: Verpachtet auf zunächst 12 Jahre
Die BLZ verwendet den Begriff „Dauerkolonie“ (BLZ 13.03.1935). Stattdessen steht die Bezeichnung Musterkolonie in den Sitzungsprotokollen des neuen Gartenvereins. Über die Protokolle gelangt die Vorstellung einer „Musterkolonie Mutterkamp“ in die Vereinschronik – genauer gesagt in die ersten drei Versionen der Vereinsgeschichte aus den Jahren 1960, 1985, 1995.
Was schreiben die Vereinschroniken? Am 4. März 1935 verpachtet die Stadt Braunschweig die 60 000 Quadratmeter auf zunächst 12 Jahre. Das städtische Hochbauamt veröffentlicht am gleichen Tag „Richtlinien für die Einrichtung der Kleingärten im Mutterkamp.“ In der Richtlinien-Nachbildung von 1951 heißt es: „Die Stadt […] betrachtet diese Kolonie als Dauerkolonie und als Teilstück des großen Grüngürtels im Osten der Stadt. Sie legt deshalb Wert darauf, daß die Gärten in einheitlicher und geordneter Anlage ausgeführt und erhalten werden“ (Richtlinien 1935, S. 1).
Dauerkleingärten, Dauerkolonie, Dauerpachtgartenland, Kleingartendaueranlage, Daueranlage, Dauerkleingartenanlage, Dauerland, Dauergärten – zahlreich sind die Begriffe, die sich für das Gegenstück zu „Zeitgärten“ finden lassen (vgl. Winkel 2023). Macht eine Verpachtung über einen Zeitraum von zwölf Jahren und mehr eine Kleingartenkolonie automatisch zu einer Dauerkolonie? Gehen „Kleingärten mit zeitlich begrenzter Nutzung“ in „langfristig gesicherte Kleingärten“ über? Was unterscheidet „Daueranlagen mit gesicherter Nutzung“ von sog. „Zeitgärten“?
Die aus der Heinrichstraße vertriebenen Kleingärtnernden werden sich jedenfalls darauf eingestellt haben, nach der (Neu-)Gründung als „Gartenverein Mutterkamp“ planungsrechtlich gesichert zwölf Jahre „Ruhe zu haben“ –, sofern sie die „Richtlinien“ des städtischen Hochbauamts beherzigen sollten. Und die Vereinsmitglieder sind (anfangs) in jedem Fall dazu motiviert, die Gärten zu vereinheitlichen und Ordnung zu erhalten, so legen es die Sitzungsprotokolle nahe.
„Musterkolonie“ – ein propagandistischer Begriff
Der Ausdruck „Musterkolonie“ muss also über das erste der beiden Protokollbücher („PB I“) des Kleingartenvereins in die ersten zwei Varianten der Vereinsgeschichte (Vereinschronik 1960 / 25 Jahre und Vereinschronik 1985 / 50 Jahre) gelangt sein. In diesen zwei Versionen der Chronik heißt es nämlich, Fettdruck im Original: Ein Sonnabend, der 16. März 1935, ist der Gründungstag der von der Stadt Braunschweig angestrebten Musterkolonie des „Kleingärtnervereins Mutterkamp“. Der Begriff Musterkolonie meint in jedem Fall etwas, das im Gegensatz zu etwas anderem Vorbildwirkung hat oder haben soll. Der Ausdruck taucht beispielsweise in der Kolonialisierungsgeschichte auf und beschreibt deutsche Kolonien im Gegensatz zu britischen. „Musterkolonie“ ist also zunächst „Ausdruck deutsch-britischer Rivalitäten um die internationalen Märkte“ (vgl. Yijie und Leutner 2019). Ganz konkret bezeichnet „Musterkolonie“ das chinesische Gebiet in der Provinz Shandong (Bucht von Jiaozhou mit der Hafenstadt Qingdao), das von 1897 bis 1914 deutsche Kolonie ist. Der Begriff dient demnach „als propagandistischer Gegenpol zum britischen Hongkong“ (Yijie und Leutner 2019). Und Propaganda wird für die Zeit nach der „Machtübertragung“ in den 1930er Jahren äußerst wichtig.
„mustergültig ,gewachsenerʻ Kleingartenverein“ an der Ebertallee (BSZ 19.08.1975)
Über Mutterkamps „mustergültiges Wachstum“ ist auch 1975 in einem Artikel in der „Braunschweiger Zeitung“ (BSZ) zu lesen. Vom „mustergültig ,gewachsene[n]ʻ Kleingartenverein ,Mutterkampʻ“ zu schreiben, scheint jedoch eher ein Wortspiel zu sein, da in einem Kleingartenverein (KGV) ja bekanntlich allerhand wächst und gedeiht. Der Zeitungsartikel spielt gar nicht auf die Vergangenheit des KGV Mutterkamp als NS-Musterkolonie an:
„40 Jahre Anlage ,Mutterkampʻ. Einige arbeiteten am Sonntagvormittag anfangs noch in ihren Gärten, die meisten hatten sich aber schon im Vereinsheim versammelt. Der Alleinunterhalter Hermann Reuter spielte ,So ein Tag, so wunderschön wie heute …ʻ Und daß alle Zufriedenheit ausstrahlten, versteht sich eigentlich von selbst, denn ihr mustergültig ,gewachsenerʻ Kleingartenverein ,Mutterkampʻ an der Ebertallee zwischen dem Nußberg und dem Naturschutzgebiet Riddagshausen besteht mittlerweile 40 Jahre – ein Jubiläum, das jung und alt am Wochenende gebührend feierten.“ (BSZ 19.08.1975)
Quellen:
- BLZ (Braunschweigische Landeszeitung) (13.03.1935): „Eine neue Kleingarten=Kolonie“. Nachabdruck. Archiv KGV Mutterkamp.
- Städtisches Hochbauamt Braunschweig (März 1935): „Richtlinien für die Einrichtung der Kleingärten im Mutterkamp“. 2 Seiten. Archiv KGV Mutterkamp. (Richtlinien 1935)
- Winkel, Udo (2023): Entstehung und Entwicklung des Kleingartenwesens in Nürnberg (1920–1995) von Dr. Udo Winkel mit Aktualisierungen zum 90-jährigen Jubiläum 2010. Online: https://kleingaertner-nuernberg.de/wp-content/uploads/2023/05/chronik_90jahre.pdf [23.11.2023]
- Protokollbuch I (1935–1962): Schrebergartenverein Mutterkamp 1935–1962. Transkription. Archiv KGV Mutterkamp, 192 Seiten. (PB I)
- Festschrift (1960): „25 Jahre Vereinsleben.“ [Im Vorstand sind 1960: Gustav Bodenburg, Friedrich Bormann, Alois Poggel, Hans Bohnhorst, Wilhelm Appelt.] Archiv KGV Mutterkamp, S. 6–7. (Vereinschronik 1960 / 25 Jahre)
- Bohnhorst, Hans (1985a): „50 Jahre Vereinsleben“. In: Festschrift 1985 – 50 Jahre KGV Mutterkamp. Archiv KGV Mutterkamp, 13–17. (Vereinschronik 1985 / 50 Jahre)
- Richwien, Dieter (1995): „60 Jahre Vereinsleben“. Loser Text. 2 Seiten. Archiv KGV Mutterkamp. (Vereinschronik 1995 / 60 Jahre)
- Bohnhorst, Hans (2005): „Geschichte des Kleingartenvereins“. In: Festschrift 2005 – 70 Jahre KGV Mutterkamp. Archiv KGV Mutterkamp, 9–12. (Vereinschronik 2005 / 70 Jahre)
- Bohnhorst, Hans (†) und Alexandra Schwarzer (2010): „Geschichte des Mutterkamps“. In: Festschrift 2010 – 75 Jahre KGV Mutterkamp. Archiv KGV Mutterkamp, 8–10. (Vereinschronik 2010 / 75 Jahre)
- Bohnhorst, Hans [†] (2015): „Geschichte des Mutterkamps“. In: Festschrift 2015 – 80 Jahre KGV Mutterkamp. Archiv KGV Mutterkamp, 5–7. (Vereinschronik 2015 / 80 Jahre)
- KGV Mutterkamp (2023): „Geschichte des Mutterkamps“. Online: https://www.mutterkamp.de/geschichte/ [01.09.2023] (Vereinschronik 2020 / 85 Jahre)
- Synopsis Vereinschroniken (2024): Vereinschroniken des KGV Mutterkamp von 1960, 1985, 1995, 2005, 2010, 2015. Archiv KGV Mutterkamp. (Tabelle Vereinschroniken, 2024)
- Yijie, Zhu und Mechthild Leutner (2019): Nicht nur Kiautschou: Eine (fast) vergessene Geschichte. Deutscher Kolonialismus in China. In: Zeitgeister. Das Kulturmagazin des Goethe-Instituts. Online: https://www.goethe.de/prj/zei/de/art/21750527.html [29.09.2023]
- BSZ (Braunschweiger Zeitung) (19.08.1975; ho- (?)): „,Osttangente ist jetzt nicht mehr aktuellʻ. Ratsherren zerstreuten Bedenken der Kleingärtner 40 Jahre Anlage ,Mutterkampʻ.“