Nr. 020: Die „Tannenarie“
Oberflächlich betrachtet wirkt es wie ein Schildbürgerinnenstreich.
1984 versucht eine Gartenfreundin, eine Bestandsgarantie für ihre überhohen Tannen zu erwirken. Zu diesem Zweck verfasst sie handschriftlich einen Brief ans Stadtgartenamt – das Stadtarchiv bewahrt das ihrem Schreiben beigefügte Foto bis heute sorgfältig auf.
Sauerstoffspender zu verschenken
In ihrem Garten habe sie seit 1964 mehrere Tannen, die sie gern durchbringen und der Stadt Braunschweig schenken möchte, weil auch „diese daran interessiert ist, bei dem Baumsterben diese Tannen als Sauerstoffspender zu erhalten“ (21. Februar 1984). Falls die Bäume zu groß seien, um in eine städtische Anlage verpflanzt werden zu können, so „könnten die Tannen ja auch in meinem Garten als Eigentum der Stadt Braunschweig stehen bleiben. Ein Kleingartenverein ist ja auch eine städtische Anlage.“
Pfiffig argumentiert von Emilla Tappe, die „eine Aufnahme v. d. Tannen beifügt“. Der Fotoabzug hat die zeittypisch abgerundeten Ecken. Doch Dr. Tute vom Stadtgarten- und Friedhofsamt lässt dankend ablehnen, muss dankend ablehnen. Am 28. Februar 1984 verweist Sachbearbeiter Schrödter auf die verbindliche Vereinssatzung, nach der „Laub- und Nadelgehölze, die von Natur aus höher als 3 m werden, im Kleingarten nicht zulässig“ sind – dies gilt selbstredend auch für Garten Nr. 95.
Man wende sich „zuständigkeitshalber“ an den Vereinsvorstand
Die Gartenfreundin meint nichts ironisch, das sei nicht die Art der Lehrerin gewesen, sagt Sigrid Schrader (Garten Nr. 34), deren Mann Holger mit einem der Söhne zur Schule gegangen ist. Sachbearbeiter Schrödter antwortet Emilla Tappe unaufgeregt: „Als erfahrene Kleingärtnerin wissen Sie sicherlich, daß die kleingärtnerische Nutzung des eigenen wie auch der umliegenden Gärten durch zu große Gehölze stark eingeschränkt wird.“ Er verweist auf den Vereinsvorstand bzw. den Landesverband BS der Kleingärtner, mit denen sie sich auseinandersetzen könne.
„Ein Kleingarten ist nun mal kein Wald“
Dieter Richwien erinnert sich an diese sog. „Tannenarie“. In den 1980er Jahren ist es ein brisantes Thema, sich für den Naturschutz starkzumachen und sich vehement dagegen zu wehren, gut entwickelte und satzungsgemäß zu hoch gewachsene Bäume herauszureißen.
Wie das Landesverbandsarchiv erzählt, hatten einige Vereinsmitglieder 1983 die Presse eingeschaltet, um diese Zwickmühle öffentlich zu machen. Die „neue braunschweiger“ titelt am 26. Mai 1983: „Kleingärtner-Krach: Bäume sollen sterben“. Der Zeitungsartikel berichtet darüber, dass im Mutterkamp „der Haussegen schief“ hänge und „bereits rund zwanzig große, über 20 Jahre alte Tannen und Fichten zum Opfer“ „der vom Vorstand angeordnete[n] Abholzaktion“ gefallen seien. Der Text nennt einen Gartenfreund, „der seine 30 Jahre alte Blaufichte nicht hergeben will“ – Joseph Buhl (Garten-Nr. ?): „Mir ist es unbegreiflich, warum gerade jetzt abgeholzt werden soll“. Die Zeitung zitiert die Gegenposition des Stadtgartenamts sowie den Generalpächter, also den Landesverband: „Ein Kleingarten ist nun mal kein Wald“.
Bäume älterer Gartenfreunde beim Generationswechsel fällen
Am gleichen Tag, am 26. Mai 1983, hängt der Vereinsvorstand eine fünf Punkte umfassende Gegendarstellung in die Infokästen: „,Schmutzige Wäsche‘ sollte doch innerhalb des Vereins gewaschen werden und nicht in der Öffentlichkeit“. Der Haussegen im Verein hänge nicht schief, sondern „offensichtlich“ hätten „einige Vereinsmitglieder ein gestörtes Verhältnis zum geltenden Vereinsrecht“.
Der damalige Vorsitzende Hans Bohnhorst und dessen Stellvertreter Peter Voß hätten richtige Kämpfe ausgetragen, berichtet Dieter Richwien und sagt über die Bäume: „Irgendwann letztendlich kamen sie dann doch raus – mussten raus“. Und Wehmut schwingt in diesen Worten in jedem Fall mit.
Quellen:
- Landesverband Braunschweig der Kleingärtner e. V.: Mutterkamp-Ordner 1
- Stadtarchiv Braunschweig, Sign. E 63: 267 (Akz. 2008/167 (Heft 1))
- Interview mit Dieter Richwien am 17.01.2020 / Heidrun Bornemann