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Nr. 011: Griff nach Raum an Messeweg und Helmstedter Straße in den 1930er Jahren

Nr. 011: „Griff nach Raum“

Exkurs „Griff nach Raum“ an Messeweg und Helmstedter Straße in den 1930er Jahren

Zwangskündigungen und Neuzuweisungen – Kleingärten müssen weichen. Siedlungs- und Wohnungsbau 1935 findet vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Diktatur statt.

Worauf spielt die Mutterkamp-Chronik konkret an, wenn darin zu lesen ist, dass die Bauwirtschaft in den 1930er Jahren am Messeweg und auch an der Helmstedter Straße nach Raum gegriffen habe, der von Kleingärtnern als blühende Gartenkolonie gehegt und gepflegt wird? Am Messeweg war 1925 dem „Schrebergarten Hohefeld e.V.“ sein erstes Pachtland zugewiesen worden. 1926 hatte er sich als Verein konstituiert. Ein Teil der heutigen Straße „Höhenblick“ gehörte zu Beginn der 1930er Jahre also zum Vereinsgelände.

Dann war dem KGV Hohefeld das Vereinsgelände am Messeweg „nach und nach“ gekündigt worden, „weil es als Erbbaufläche und zur Erweiterung des Botanischen Versuchsgeländes [der Biologischen Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft] benötigt“ (BSZ 2016) worden war. Am 1. Oktober 1931 war dem KGV Gelände an der Berliner Straße Nr. 54e zugewiesen worden, und in den Jahren 1931 bis 1934 zogen die Kleingärtnernden des KGV vom Messeweg dorthin um. Daraus folgt: „Damals verfügte der Verein [Hohefeld] noch über eine Gesamtfläche von 3,0466 Hektar auf zwei weit auseinanderliegenden Gartenflächen.“ (BSZ 2016)

Historischer Plan von 1932
Da die Kolonie auf dem Fricke’schen Gelände noch nicht auf Braunschweiger Stadtgebiet lag, musste die Landesgruppe den Landausschuss Gliesmarode anrufen. Als der Landausschuss entschied, dass die Kündigung nichtig sei, beschwerte sich Verpächter Fricke bei der Kreisdirektion. Daraufhin wurde im Februar 1934 ein Vergleich geschlossen: Das Pachtverhältnis wird um ein Jahr verlängert, der Pächter muss einige Arbeiten ausführen lassen und die Pacht wird ortsüblich geregelt – nicht mehr 8 Pfennig pro Quadratmeter, sondern nur noch 6 Pfennig. Dies soll immer noch überdurchschnittlich sein. Richard Geibel, „Vereinsführer“, unterrichtet Landesgruppenführer Dippold von seiner Eingabe: Geibel schreibt am 23. April 1934 an den Oberbürgermeister Dr. phil. Wilhelm Hesse. Er fragt, welches dringende Bedürfnis vorliege, das die Kündigung rechtfertige. Geibel beruft sich auf die Aussage des Reichskleingärtnerbundführers Dr. Kammler, dass Kündigungen nur möglich und nötig seien, wenn ein dringendes Bedürfnis vorliege. „Liegt nun ein dringendes Bedürfnis vor?“ (Geibel 1934) Der Protest hilft nicht, die Gärten müssen weichen. Doch auf Seite 3 der Eingabe wird eingegangen werden: „Eins möchten wir Kleingärtner aber noch zum Ausdruck bringen: Sollte nämlich nach sachlicher Prüfung unseres Anliegens doch eine demnächstige Bebauung geplant sein, dann bitten wir um Zuweisung eines Stück Landes, das geschützt ist vor der Bebauung, denn das Nomadenleben des Kleingärtners ist untragbar und entfremdet ihn von seiner Verbundenheit zur Scholle.“ (Geibel 1934) Foto: Stadtarchiv Braunschweig: Atlas „Die Geschichte der Stadt Braunschweig in Karten, Plänen und Ansichten“, 3.63

„Griff nach Raum“ – Eingemeindung von Gliesmarode 1934

Dann endete für den KGV Hohefeld „eine wahrhaft bewegte Geschichte“ (BSZ 2016), als am 1. April 1934 Gliesmarode in die Stadt Braunschweig eingemeindet wurde. Die heutige Siedlung am Messeweg entstand ab Frühjahr 1934 demnach „in einem Kleingartenbereich [des „Schrebergartenvereins Hohefeld e. V.“] östlich einer am Stadtrand verlaufenden Hauptverkehrsachse (Messeweg) sowie nordwestlich an den Riddagshäuser Klosterteichen in bevorzugter Lage“ (Mittmann 2003, S. 181): „Siedlung des Nationalen Siedlungsvereins Gemeinnutz“ lautete der Name der Siedlung damals.

Von der Häuserreihe „An der Wabe“ führen alle Wege zum Gartenverein Mutterkamp, entweder weiter den „Tafelmakerweg“ entlang …

Die heutige Siedlung am Messeweg dockte dabei an einen Flügel einer anderen Wohnsiedlung an, und zwar der allerersten von den Nationalsozialisten beauftragten Wohnsiedlung: an die „Fritz-Alpers-Siedlung“ – heutige Wabetalsiedlung an der Straße „Friedensallee“. 

F. Alpers wurde 1929 Mitglied der 1920 gegründeten NSDAP und war Finanzminister im parallel zur Weimarer Republik 1918–1933 bestehenden Freistaat Braunschweig. Die damalige F.-Alpers-Siedlung wurde ab Januar 1934 zu bauen begonnen, bevor Gliesmarode am 1. April 1934 zur Stadt Braunschweig eingemeindet worden war. Man integrierte dabei „eine früher [nämlich ab 1922] entstandene Bebauungsreihe mit Eigenheimen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg“ (Mittmann 2003, S. 177) und griff Pläne zur „Gartenstadt Riddagshausen“ von 1914 auf. Der Idee einer genossenschaftlichen Gartenstadt von 1910 war ab 1912 die Idee einer herzoglichen Gartenstadt gefolgt – die Konzeption der herzoglichen Gartenstadt hatte die genossenschaftliche verdrängt –, als der Erste Weltkrieg 1914–1918 „dazwischenkam“ und sich 1922 auch die Trägergesellschaft der herzoglichen Gartenstadt auflöste. 

Um Verwirrung vorzubeugen: Die südwestlich in Braunschweig gelegene namensgleiche „Gartenstadt“ ist hier nicht gemeint. Das ans Westliche Ringgebiet und Rüningen angrenzende Wohnviertel entstand ab Juni 1933 (zunächst) unter der Bezeichnung „Dietrich-Klagges-Stadt“ und wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs umbenannt in „Gartenstadt Rüningen“, dann in „Braunschweig-Gartenstadt“.

… oder über die Verlängerung der Grünewaldstraße und dann entlang „Am Nußberg“ parallel zu den Bahngleisen

Von besagter Häuserreihe aus den 1920er Jahren an der Straße „An der Wabe“ in direkter Nähe zur Wabe ist es ein Katzensprung zum KGV Mutterkamp. Vom Weg „An der Wabe“ lässt sich entlang der Mittelriede – am Tafelmakerweg entlang – bis zur Kreuzung des Wegs „Mutterkamp“ spazieren, um dort die Mittelriede zu passieren und zu den Parzellen des KGV Mutterkamp zu kommen. Vom Weg „An der Wabe“ geht es jedoch auch direkt über die Mittelriede drüber und entlang der Verlängerung der Grünewaldstraße bis zum „Zubringer“ zur Kleingartenkolonie auf dem Mutterkamp – also zum Weg „Am Nußberg“ entlang der Eisenbahngleise.

„Griff nach Raum“ an der Helmstedter Straße

Der auch an der nach Magdeburg führenden Helmstedter Straße („Bundesstraße 1“) erfolgende Griff nach Raum hat möglicherweise mit den Vorläufern des Wohngebiets im Bereich der Memeler Straße gegenüber dem Hauptfriedhof zu tun, denn: „In den Jahren 1933/34 war hier bereits ein zusammenhängendes Wohnviertel als Ergänzung der v.a. direkt an der Helmstedter Straße bereits bestehenden Bebauung geplant gewesen. Die ersten Straßenbenennungen erfolgten daraufhin 1934/35 [und zwar Dirschauer, Danziger und Bromberger Straße, also nach durch den Versailler Vertrag von 1919 abgetretenen Gebieten], jedoch wurde das Baugebiet im Bereich Memeler Straße erst ab 1936 vom Stadtplanungsamt mit der Bearbeitung der städtebaulichen Pläne vorbereitet.“ (Mittmann 2003, S. 265)

Historischer Stadtplan von 1932
Im Sommer 1929 ließ sich der Georg Westermann Verlag durch die Vermessungsabteilung des Tiefbauamts anregen, einen neuen Stadtplan herzustellen und zu verlegen. Die gesamten Bodenbedeckungen waren darzustellen: Hausgärten, Schrebergärten, Wiesen, Felder, Wälder, Parks, Friedhöfe wie auch Stadtteilnamen, Straßennamen und Flurbezeichnungen. Seit 1933 wurde das bis dahin vorwiegend als Gartengelände genutzte Gebiet zwischen Karlstraße, Wilhelm-Bode-Straße und Stadtpark bebaut. Hier entstand das sogenannte „Fliegerviertel“ mit zwei- bis dreigeschossigen Mehrfamilienhäusern. Der Pächter Fricke kündigte das Gartenland zwischen Adamsgraben, Karlstraße und Verlängerung der Heinrichstraße und begründete die Bebauung mit einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Tatsächlich heißt es in einem „Vermerk“ der Abt. G 2 vom 2. Mai 1935: „Im Rahmen der diesjährigen Arbeitsschlacht ist geplant, das Gelände zwischen der verlängerten Straße Am Stadtpark und der Schunterstraße nach dem kürzlich beschlossenen Teilortsbauplan zu erschließen und für die Bebauung freizugeben.“ Foto: Stadtarchiv Braunschweig: „Historischer Atlas der Stadt Braunschweig“, 1.131

Quellen:

  • Abt. C 2/Rbm.Dir./My. (25.04.1934/08.05.1934): 1) An den Schrebergartenverein Heinrichstrasse, z. Hd. Des Herrn Richard Geibel, hier. Kl. Campestrasse 9. Typoskript. Stadtarchiv Braunschweig: Signatur E 66: 414; 1 Seite. (Freigabe Grundstück Fricke für Bebauung, keine Ausweisung als Dauergrünfläche aus Kostengründen, April/Mai 1935)
  • Abt. G 2/Stadt Braunschweig (26.04.1935): 1) Vermerk. 2) Herrn Stadtbaurat Gebensleben vorlegen. Typoskript. Stadtarchiv Braunschweig: Signatur E 66: 414; 2 Seiten. (Veräußerung von städtischem Gelände am Franzschen Feld zur Bebauung und Erschließung des Fricke’schen Geländes, April 1935)
  • BSZ (2016): Wo fleißige Gärtner gerne feiern. Der Kleingärtnerverein Hohefeld feiert am Wochenende sein 90-jähriges Bestehen. In: Braunschweiger Zeitung vom 19.08.2016. Ohne Autor:in. Online: https://www.braunschweiger-zeitung.de/braunschweig/article152403909/Wo-fleissige-Gaertner-gerne-feiern.html [05.10.2022]
  • Geibel, Richard (23.04.1934): „Schrebergartenverein Heinrichstraße. Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Liegt nun ein dringendes Bedürfnis vor?“ Typoskript. Stadtarchiv Braunschweig: Signatur E 66: 414; 3 Seiten. (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934)
  • Mittmann, Markus (2003): Bauen im Nationalsozialismus. Braunschweig, die „Deutsche Siedlerstadt“ und die „Mustersiedlung der Deutschen Arbeitsfront“ Braunschweig-Mascherode. Ursprung – Gestaltung – Analyse. Hameln: Niemeyer.