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Nr. 006: Vorläuferkolonie beim neuen Massenaufmarschfeld

Nr. 006: Vorläuferkolonie beim neuen Massenaufmarschfeld

1931: Franzsches Feld wird als Massenaufmarschfeld benutzt

Braunschweig soll eine nationalsozialistische Musterstadt werden, nach Meinung des damaligen Ministerpräsidenten. Ein Großteil der Bevölkerung lässt sich von der enthusiastischen völkischen Aufbruchstimmung einnehmen und schätzt es, dass frühe NS-Großkundgebungen ausgerechnet auf dem Franzschen Feld am Nussberg stattfinden.

Im August 1933 bildete sich aus der Kolonie an der verlängerten Heinrichstraße in direkter Nähe zum Franzschen Feld zwangsweise der „Schrebergartenverein Heinrichstraße“. Danach kündigte der Verpächter, Dachdeckermeister Friedrich Fricke, das Gartenland. Daraufhin rief der Verein den Landausschuss Gliesmarode an, weil das „Fricke’sche Gelände“ (noch) nicht auf Braunschweiger Gebiet lag. Vereinsführer Geibel berichtet OB Dr. Hesse am 23. April 1934: „Der Landausschuss Gliesmarode entschied: Die Kündigung ist nichtig. Gegen diesen Entscheid erhob der Verpächter Beschwerde bei der Kreisdirektion und hier wurde im Februar ds. Js. [1934] ein Vergleich geschlossen, wonach das Pachtverhältnis um ein Jahr zu verlängern sei. Gleichzeitig wurde die Pachte ortsüblich geregelt und der Pächter angehalten, einige Arbeiten ausführen zu lassen.“

Geibel geht ins Detail und nennt die Höhe der Pacht: „Der Vergleich bedeutete also die Bestätigung dessen, was der Landausschuss bereits festgesetzt hatte. Dieser Vergleich hat den Grundeigentümer recht verbittert. Bisher betrug die Pachte für den Quadratmeter 8 Pfennig, nunmehr 6 Pfennig. Damit liegt er aber immer noch weit über der ortsüblichen Pachte. Wir Pächter haben im Verlaufe der Jahre aber mehr für unseren Garten bezahlt, als der Besitzer des Landes zu Inflationszeiten dafür gegeben hat.“ (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934, Seite 2)

Historische Karte von 1744 zeigt die Heerstraßen in Braunschweig
Die Verkehrswege zu Lande, die Heer- und Handelsstraßen, befanden sich seit Beginn des 18. Jahrhunderts in schlechtem Zustand. An die herzogliche Verwaltung in Wolfenbüttel gingen deshalb zahlreiche Beschwerden ein. 1705 war die Fachbehörde der „General-Wegebesserungskommission“ beim Geheimen Rat eingerichtet worden. Der Ingenieur Albrecht Heinrich Carl Counradi wurde damit beauftragt, Risse und handgezeichnete Arbeitskarten anzufertigen und griff auf den linearen Maßstab von 600 Ruten zurück. Über die exakte Vermessung der Heerstraßen hinaus enthält die Arbeitskarte – „Continuation Des Grund-Risses und der Situation derer von Braunschweig bis an denen Landwehren belegenen Heerstrassen, als … 2.) aus den Fallerslebischen Thor bis an den Gliesenröder Thurm, die Berliner heerstrasse, nebst den herschafftlichen Weg über den langen Graben“ – Straßenzustandsbeschreibungen und Angaben, wie verschiedene Flächen genutzt werden und wie einzelne Flurnamen heißen, u. a. „Der Mutter Camp“. Foto: Stadtarchiv Braunschweig: Atlas „Die Geschichte der Stadt Braunschweig in Karten, Plänen und Ansichten“, 3.29/2.

Pacht für „Schrebergartenverein Heinrichstraße“ liegt (immer noch) „weit über der ortsüblichen Pachte“

Die Kleingärtnernden aus der Verlängerung der Heinrichstraße zu verdrängen, hatte also weniger mit dem Versuch zu tun, Wohnungsmangel für Mittel- und Unterschichten zu beheben, sondern vielmehr mit Prestige. Braunschweig zählte zwar zum Gau Süd-Hannover-Braunschweig, das von Hannover aus geleitet wurde, doch der damalige „braunschweigische Ministerpräsident Klagges strebte in den folgenden Jahren [1933–1945] an, die Stadt zur Hauptstadt eines neuen Reichsgaues ,Ostfalenʻ zu machen. Um diesem Ziel näherzukommen, setzte er alles daran, aus [Braunschweig] eine nationalsozialistische Musterstadt zu machen“ (Warnecke 2006b, S. 62). Die paramilitärischen Verbände der 1920 gegründeten „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“ (NSDAP) nutzten (deshalb) „schon am 18. Okt. 1931“ (Warnecke 2006b, S. 62) die weiten Wiesen und Sportfelder des Franzschen Felds als Massenaufmarschfeld, über sechs Stunden mit über 100.000 Personen. „Das militärische Schauspiel kam äußerlich einer Besetzung der Landeshauptstadt [Freistaat/Land Braunschweig 1918–1933] gleich. Äußerer Anlaß des Aufmarsches war die [,]Weihe[ʻ] von 24 Standarten [an Querstangen befestigte Flaggen] neu aufgestellter SA-Verbände. Es kann aber kein Zweifel darüber bestehen, daß die zeitliche Nähe zwischen Harzburg und dem Braunschweiger SA-Treffen kein Zufall war.“ (Kaiser 1970, S. 86) 

Das Schlagwort „Harzburg“ im obigen Zitat wiederum meint die Tagung der „Nationalen Front“ am 11. Oktober 1930 in Bad Harzburg, auf der sich antidemokratische Nationalisten und Rechtsextremisten ausschließlich für diesen Moment als „Harzburger Front“ gegen die Weimarer Republik und das Kabinett des Reichskanzlers H. Brüning verbündeten.

Historischer Kupferstich, der über Braunschweig und Umgebung von 1755 informiert
Die Vorzeichnung zu dieser Umgebungskarte wird von Albrecht Heinrich Carl Counradi stammen, dem Herzoglichen Bauverwalter in Braunschweig. Der kolorierte Kupferstich kam dem Bildungshunger des Bürgertums nach Atlanten- und Einzelkartenpublikationen nach – sachlich informativ wie auch ästhetisch: „ACCURATE ICHNOGRAPHISCHE VORSTELLUNG DER HAUPT-STADT UND VESTUNG BRAUNSCHWEIG NEBST DER UM DIESELBE LIEGENDEN GEGEND NACH DER NEUESTEN ZEICHNUNG IN KUPFER GESTOCHEN UND VERLEGT VON MATTHAEUS SEUTTER, IHRO RÖM. KAY. MAJ. GEOGRAPHO IN AUGSPURG.“ Adel und Großbürgertum begannen ausgedehnte Bildungsreisen. Foto: Stadtarchiv Braunschweig: Atlas „Die Geschichte der Stadt Braunschweig in Karten, Plänen und Ansichten“, 3.32
Um 1755, Umgebungskarte der Stadt Braunschweig
Um 1755, Umgebungskarte der Stadt Braunschweig, Detail. Foto: Stadtarchiv Braunschweig: Atlas „Die Geschichte der Stadt Braunschweig in Karten, Plänen und Ansichten“, 3.32

Aufmärsche entwickeln sich weg von einer Kulisse hin zur bedrohlichen Hauptaussage: Die NSDAP vermag, mit Massen an Anhänger:innen aufzuwarten!

Die NSDAP war 1920 in München aus der 1919 ebenfalls dort gegründeten „Deutschen Arbeiterpartei“ hervorgegangen. „In der preußischen Provinz Hannover lag die Wählerschaft der NSDAP bereits in den 1920er Jahren teils weit über dem Reichsdurchschnitt.“ (Hauptmeyer 2004, S. 119) Die NSDAP war 1924 im Januar erstmals deutschlandweit in einem Landtag vertreten, und zwar ausgerechnet im damaligen Freistaat Braunschweig, da S. Oerter – 1920/21 Ministerpräsident – aus der USPD ausgeschlossen worden war und zur NSDAP übertrat. Die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (USPD) hatte sich in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs von der im 19. Jahrhundert gegründeten SPD abgespalten. Im September 1930 trat die NSDAP schließlich in die Landesregierung Braunschweigs ein.

Das Franzsche Feld befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Vorläufervereins und des nur vier Jahre später „zwangsneugegründeten“ Gartenvereins Mutterkamp. Dies stimmt nachdenklich, denn über den Massenaufmarsch im Oktober 1931 auf dem Franzschen Feld ist zu lesen, dass die Massenmobilisierung als solche Ziel und Zweck war und nicht länger nur Kulisse und Hilfsmittel von Politik: „In Braunschweig sollte demonstriert werden, daß die Macht der Rechten nicht von der Nationalen Opposition [Allianz aus NSDAP und Deutschnationaler Volkspartei (DNVP)] verkörpert wurde, sondern allein die nationalsozialistische Bewegung über die breite Anhängerschaft verfügte, die den Anspruch auf die Machtübernahme legitimieren sollte. Im Gegensatz zu Harzburg, wo die Paraden der paramilitärischen Organisationen [Wehrverbände Stahlhelm und Sturmabteilung (SA), die Vereinigten Vaterländischen Verbände und der Alldeutsche Verband] wesentlich Kulissenfunktion hatten und das eigentliche Politikum der Tagung in der gemeinsamen verbalen Kampfansage an das ,Systemʻ [Demokratie der Weimarer Republik] lag, muß der Sinn des Braunschweiger Aufmarsches in seinem Massenaufgebot gesehen werden.“ (Kaiser 1970, S. 86)

Ein großer Teil der braunschweigischen Bevölkerung beachtete und bewunderte die NS-Großkundgebungen durchaus, wie den Gau-Parteitag im Februar 1931 und den Marsch von 104.000 SA-Männern im Oktober 1931, und ließ sich von einer enthusiastischen völkischen Aufbruchstimmung einnehmen (vgl. Wettern 2021, S. 121). Im November 1935 wurde die große, leicht abfallende Freifläche des Franzschen Felds in „SA-Feld“ umbenannt.

Quellen:

  • Geibel, Richard (23.04.1934): „Schrebergartenverein Heinrichstraße. Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Liegt nun ein dringendes Bedürfnis vor?“ Typoskript. Stadtarchiv Braunschweig: Signatur E 66: 414; 3 Seiten. (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934)
  • Warnecke, Burchardt (2006b): Der Braunschweiger Nußberg und seine Umgebung. Ein Stück Stadtgeschichte aus dem Osten der Stadt Braunschweig. 10. Aufl. Braunschweig: Appelhans.
  • Kaiser, Klaus (1970): Braunschweiger Presse und Nationalsozialismus. Der Aufstieg der NSDAP im Lande Braunschweig im Spiegel der Braunschweiger Tageszeitungen 1930 bis 1933. Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek. Braunschweig: Waisenhaus-Buchdruckerei/-Verlag
  • Hauptmeyer, Carl-Hans (2004): Niedersachsen. Landesgeschichte und historische Regionalentwicklung im Überblick. Hrsg. von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung (NLPB). Oldenburg: Isensee. Online: https://www.niedersachsen.de/download/13404/Niedersachsen_-_Landesgeschichte_und_historische_Regionalentwicklung_im_Ueberblick.pdf [15.12.2023]
  • Wettern, Michael (2021): Entwicklung von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Braunschweig. Braunschweig: Appelhans.