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Nr. 005: In den 1930er Jahren werden komplette Siedlungen umfangreich gebaut

Nr. 005: In den 1930er Jahren werden komplette Siedlungen umfangreich gebaut

Um das politische System zu verändern, werden komplette Siedlungen umfangreich gebaut.

Siedlungs- und Wohnungsbaupläne der NS-Zeit verändern den östlichen Außenstadtbezirk. Zuvor hatten die Industrialisierung und das „Ringstraßenprojekt“ auf den heutigen „Stadtbezirk 120“ eingewirkt.

1960 wird die Vereinsgeschichte des KGV Mutterkamp erstmals veröffentlicht, und zwar im Rahmen der Festschrift anlässlich des 25-jährigen Gründungsjubiläums. Warum scheint sich die Mutterkamp-Chronik mit der Stadtverwaltung im NS-Regime zu identifizieren, indem sie von unserer Stadtverwaltung schreibt, die sich – doch rechtzeitig um günstig gelegenes Ersatzland für die „zwangsgekündigten“ Parzellen an der Heinrichstraße bemüht habe? Der Blog über die Geschichte des KGV Mutterkamp will sich davon abgrenzen, „Propaganda wiederzugeben“ und hinterfragt daher ganz bewusst die Formulierung unsere Stadtverwaltung. Als am 16. März 1935 die Verlosungsaktion von Gärten im neu zu gründenden „Gartenverein Mutterkamp“ stattfand, der die Vereinskonstituierung am 17. Mai 1935 folgte, ließ das NS-Regime umfangreich bauen, weil es das politische System der Weimarer Republik bewusst zu verändern beabsichtigte („Reichsreform“-Pläne). Dieser Blog will davon erzählen, dass der damalige Siedlungs- und Wohnungsbau „vor dem verhängnisvollen Hintergrund der nationalsozialistischen Diktatur stand, die in der Konsequenz ihrer eigenen Ideologie Unterdrückung, Folter, Massenmord und Vernichtungslager als erlaubte Mittel ansah“ und einen Angriffskrieg begann (Mittmann 2004, S. 13).

Warum Bauwirtschaft „an der verlängerten Heinrichstraße“?

Über den Vorläuferverein, „Schrebergartenverein Heinrichstraße“, der sich im August 1933 als Verein konstituieren musste, gibt es als gesicherte Information den dreiseitigen Brief von Vereinsvorstand Richard Geibel. Darin fragt er am 23. April 1934 den Braunschweiger OB, Dr. Hesse: „Warum will man uns von unserer Scholle vertreiben, die wir erst durch mühevolle Arbeit zu dem gemacht haben, was sie heute ist? Es ist für einen Kleingärtner eine schwere Bedrückung, wenn er nicht weiss, ob er von dem Samenkorn, das er heute legt, in sechs Monaten auch noch erntet. Ich fühle mich als Vereinführer [sic] verantwortlich dafür, dass diesem für Gartenpächter unhaltbarem Zustande ein Ende bereitet wird und deshalb bitte ich Sie, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, eine Klärung herbeiführen zu wollen.“ (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934, S. 2)

Geibel hält die vorgeschriebene hierarchische Struktur ein. Er hat sich zunächst mit dem für den Gartenverein zuständigen Ansprechpartner ausgetauscht, also Eberhard Dippold, Führer der „Landesgruppe Braunschweig im Reichsbunde der Kleingärtner und Kleinsiedler Deutschlands e. V.“. Er hat über die irritierende Aufkündigung der Pacht durch Verpächter Fricke „unter dem Vorwande, dass zum Zwecke der Arbeitsbeschaffung das Gartenland nunmehr bebaut werden solle“ gesprochen: „Der Landesgruppenführer Dippold ist von dieser Eingabe unterrichtet. Hundertfünfzig Kleingärtner, die sich durch jahrzehntelange Arbeit mit ihrem Stückchen Land verwachsen fühlen, bitten durch mich, eine Klärung herbeizuführen.“ (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934, S. 2)

Zur Namensgebung des „Schrebergartenvereins Heinrichstraße“

Das Gebiet der städtischen Feldmark außerhalb der Wallanlagen war ab 1850 ungeregelt bebaut worden.
Die Bevölkerung wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark an. Daher wurde die Außenstadt ungeregelt bebaut, das Gebiet der städtischen Feldmark außerhalb der Wallanlagen. Dies brachte verwaltungstechnische und juristische Probleme mit sich. Deshalb sollte die städtische Besiedlungsfläche geordnet ausgeweitet werden und Stadtbaumeister Carl Tappe erarbeitete im Jahre 1870 den „ERWEITERUNGSPLAN DER Stadt Braunschweig“. Im Nordosten hat Tappe den Verlauf der späteren Waterloostraße, der Humboldtstraße und Hans-Sommer-Straße projektiert. Fahr- und Feldwege wurden als „Interessentenwege der Feldmarksgenossenschaften“ bezeichnet, in städtischen Besitz übernommen und in „Communalwege“ umgewandelt. Die Stadt musste sie unterhalten. Im Gegensatz dazu mussten die herzoglichen Behörden die staatlichen Heerstraßen-Chauseen unterhalten. – Nicht alle geplanten Straßen sind jedoch auch gebaut worden. Foto: Stadtarchiv Braunschweig: Atlas „Die Geschichte der Stadt Braunschweig in Karten, Plänen und Ansichten“, 3.52
Historischer Plan von 1872
Nach der Einverleibung Hannovers durch Preußen war das Herzogtum Braunschweig in einer wirtschafts- wie verkehrsgeografische Randlage geraten. An Braunschweig vorbei wurde 1873 die Eisenbahnlinie Berlin – Stendal – Hannover gegründet. Technisch begabte Arbeitskräfte aus dem rückgehenden Harzer Erzbergbau wandern in Braunschweig ein. Der Plan trägt dem neuen Rang der Stadt als Industriestadt Rechnung. Unerschlossen war noch das sumpfige Gebiet des Hagenbruchs. Die kommunalen Straßen der Außenstadt waren verwaltungsmäßig den entsprechenden Distrikten der Innenstadt zugeteilt: Zum (2.) Steintordistrikt gehörte u. a. die Kastanienallee und der Riddagshäuser Weg. Zum (3.) Wendentordistrikt zählten u. a. Gliesmaroder Straße und Gliesmaroder Fußweg. Der Plan enthält auch Fehler: Am Fallersleber Tor ist noch der „Holzhof“ verzeichnet, obwohl dort längst der „Herzogliche Botanische Garten“ angelegt worden war. Foto: Stadtarchiv Braunschweig: Atlas „Die Geschichte der Stadt Braunschweig in Karten, Plänen und Ansichten“, 3.53

Klarheit herrscht, was die Heinrichstraße als Namensgeberin angeht: Sie entstand im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die Kastanienallee „Nach dem großen Exerzierplatz“ geheißen hatte, bis 1868. Zuvor, um 1850, war „die Kasta“ „nichts als ein von Weiden gesäumter Weg zu den Schutzhütten der Viehhirten der Altewieksweide“ (Warnecke 2009, 1, S. 5) gewesen – ein Weg zum Gebiet zwischen „Kasta“ und Husarenstraße.

Der Stadtmagistrat, also das Pendant zu einem Gemeindevorstand, hatte den östlichen Außenstadtbezirk zum Baugrund erklärt, weil die Industrialisierung – u. a. Konserven- und Zuckerfabriken – die Bevölkerung rasch hatte anwachsen lassen. In Zahlen: von ca. 42.000 Einwohnerinnen und Einwohnern im Jahr 1861 auf 136.000 Einwohnerinnen und Einwohner im Jahre 1900 (vgl. Warnecke 2006b, S. 59).

Das „Ringstraßenprojekt“ in den „Gründerjahren“

Als sich das Deutsche Kaiserreich (1871–1918) gründete und es zur Aufschwungphase („Gründerjahre“) kam, skizzierten Stadtbauräte „munter“ Erweiterungspläne (C. Tappe ab 1870) und entwarfen das sog. „Ringstraßenprojekt“ (L. Winter ab 1882). Im „Östlichen Ringgebiet“ finden sich der 1887 fertiggestellte Altewiekring zwischen Kastanienallee und Helmstedter Straße, der 1892 „Jägerstraße“ bezeichnete Altewiekring zwischen Kastanienallee und Jasperallee und der 1900 weiter nördlich gelegene Hagenring.

Der historische Plan von 1889 zeigt, wie ein Straßennetz aus Zentralstraßen und Querstraßen die Stadt erweitert hat.
Schon 1878 war Tappes Stadterweiterungsplan erweitert worden, da auch die entlegensten, nicht offiziell als Bauland ausgewiesenen Teile der Feldmarken schon vom Bauboom erfasst worden waren. Aus den Stadttoren liefen die alten Heer- und Handelsstraßen wie Strahlen heraus und bildeten die Hauptverkehrslinien der Stadterweiterung, die Basis für Zentralstraßen des sog. „Zentralsystems“. Dazwischen Querstraßen. 1881 entschieden sich Magistrat und Stadtverordnetenversammlung zudem für das „Ringprojekt“. Am 8. Juni 1882 wurde der „Wilhelminische Ring“ beschlossen. Im gleichen Jahr wurde der Hagenbruch eingegliedert. Das sog. Fasanenhölzchen wurde 1883 zum Stadtpark umgestaltet. 1899 wurde der „Große Exer“ am Nussberg aufgehoben und sollte zum Parkgelände umgestaltet werden. Foto: Stadtarchiv Braunschweig: Atlas „Die Geschichte der Stadt Braunschweig in Karten, Plänen und Ansichten“, 3.56

Der „Vorfahr“ des KGV Mutterkamp, der Gartenverein Heinrichstraße, liegt im heutigen „Stadtbezirk 120“

Das Wohnviertel, in dem der „Vorfahr“ des KGV Mutterkamp lag, die 1907 entstandene Kolonie in der verlängerten Heinrichstraße, die 1933 zum „Schrebergartenverein Heinrichstraße“ wurde, ist von daher bis heute geprägt von wenigen größeren Häusern historistischer Architektur mit „respektablen Wohnungen“ fürs damalige Großbürgertum und vielen kleineren (Fachwerk-)Häusern für die damalige Unter- und Mittelschicht. Den heutigen „Stadtbezirk 120“ kennzeichnen kleine Fabriken, Handwerksbetriebe, Eckläden für Schlachtereien, Bäckereien und drei Brücken über den Okerumflutkanal, vier Grundschulen, drei (neugotische) Kirchen sowie Kasernenbauten und das Krankenhaus Marienstift (1883) (vgl. Warnecke 2009, 1, S. 4 f.).

Quellen:

  • Mittmann, Markus (2003): Bauen im Nationalsozialismus. Braunschweig, die „Deutsche Siedlerstadt“ und die „Mustersiedlung der Deutschen Arbeitsfront“ Braunschweig-Mascherode. Ursprung – Gestaltung – Analyse. Hameln: Niemeyer.
  • Warnecke, Burchardt (2009): Zur Entstehung des Östlichen Ringgebiets. In: Klinterklater. Östliches Ringgebiet. Zeitung der SPD-Ortsvereine Fallersleber Tor, Magnitor und Steintor. 11. Jg., Nr. 1, S. 4 f./März 2009, S. 4. Online: https://www.spd-braunschweig.de/wp-content/uploads/sites/657/2019/02/2009_1.pdf (27.09.2023)
  • Warnecke, Burchardt (2006b): Der Braunschweiger Nußberg und seine Umgebung. Ein Stück Stadtgeschichte aus dem Osten der Stadt Braunschweig. 10. Aufl. Braunschweig: Appelhans.
  • Geibel, Richard (23.04.1934): „Schrebergartenverein Heinrichstraße. Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Liegt nun ein dringendes Bedürfnis vor?“ Typoskript. Stadtarchiv Braunschweig: Signatur E 66: 414; 3 Seiten. (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934)