Nr. 004: Kleingärten in der Heinrichstraße kündigen
Stattdessen Raum zum Wohnen? Statt Kleingärten?
Wie hatte sich das Gebiet in Braunschweigs Osten seit dem 18. Jahrhundert verändert? Im Zeitraffer: Wallanlagen geschleift, „Herzoglicher Küchengarten“ aufgegeben, „Morgenland“ entwässert, prächtige Mittelpromenade geplant.
Mit unsern Gartenfreunden, denen die eigene Scholle durch die Nähe der Wohnung besonders ans Herz gewachsen ist, so daß die erfolgte Kündigung besonders schmerzlich empfunden wird, meint die Mutterkamp-Chronik die Pächterinnen und Pächter einer in der Heinrichstraße gelegenen Kolonie.
Der „Vereinsführer“ Richard Geibel bittet am 23. April 1934 Oberbürgermeister Hesse, seine „Aufmerksamkeit auf eine Angelegenheit zu richten […], die im Belange vieler Kleingartenpächter liegt.“ Er informiert über die Wurzeln der fast 170 Gärten, dass die Pächter „zum Teil 20 Jahre und mehr auf unserem lieb gewordenen Gärtchen [sitzen]. … Wir haben in jahrzehntelanger Kleinarbeit eine Gartenkolonie geschaffen, auf die wir heute alle stolz sind.“ Dann geht Geibel auf die Geschäftsbeziehung der Pächter zum Verpächter ein: „Wenn bis [Sommer 1933] das Verhältnis zwischen Pächter und Verpächter ein ungetrübtes war, so trat nunmehr leider ein Zustand ein, der für uns Kleingärtner als untragbar zu bezeichnen ist.“ (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934, Seite 1)
Erschließung des Fricke’schen Geländes zum Preis von 5,50 RM bis 7,- RM als Bauplätze
Verpächter Friedrich Fricke, Dachdeckermeister, „hatte uns alle gekündigt unter dem Vorwande, dass zum Zwecke der Arbeitsbeschaffung das Gartenland nunmehr bebaut werden solle“, schreibt Geibel im April 1934 an den OB. „Der Reichsbund der Kleingärtner unter Führung des Herrn Dr. Kammler sagt uns Kleingärtnern aber immer wieder, dass uns unser Garten nur genommen werden darf, wenn ein dringendes Bedürfnis vorliegt. Liegt nun ein dringendes Bedürfnis vor?“ (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934, Seite 2)
Die Mutterkamp-Chronik scheint Verständnis dafür zu äußern, dass leider gekündigt werden musste, denn Bauplätze für notwendigen Wohnraum seien eben nur schwer zu beschaffen gewesen. So heißt es in den Versionen der Vereinsgeschichte von 1960, 1985 und 1995. Und es stellt sich die Frage: Galt dies wirklich für 1934/35? Als ob der fürsorgliche Staat damals aus sozialen Beweggründen heraus etwas für die Bürgerinnen und Bürger hätte leisten wollen? (vgl. Mittmann 2003, S. 13) Mitte der 1930er Jahre waren einige Siedlungsquartiere im Osten der Stadt „doch längst“ entwickelt worden, weshalb dort kein Wohnungsmangel herrschte – allerdings Wohnungsnot. Das ist ein feiner Unterschied, der zwischen Mangel und Not.
Ganz in diesem Sinne heißt es weiter im Brief von Vereinsvorstand Geibel an den Braunschweiger OB von April 1934: „Wir Pächter [meinen, dass wir in Braunschweig Gelegenheit übergenug hätten, um etwaige Bauvorhaben ausführen zu können. Wir haben Bauplätze für Einfamilienhäuser an bereits befestigten kanalisierten Strass in grosser Auswahl. Die grosszügige Erschliessung an den verschiedensten Stellen gibt jedem Baulustigen ausreichend Gelegenheit, ein Eigenheim zu erstellen.“ (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934, Seite 2)

Entwicklung des Gebiets an der Heinrichstraße in Braunschweigs Osten … von der Schleifung der Wallanlagen …
Weit reichen die Wurzeln in die Vergangenheit. Der historische Blog über „den Mutterkamp“ buddelt sich bis ins 18. Jahrhundert: Nachdem die schweren Bastionen der Wallanlagen entfestigt worden waren („Walldemolierung; geordnete „Schleifung“ ab 1780), hatte sich Anfang des 19. Jahrhunderts die Stadt Braunschweig östlich über das „Fallersleber Thore“ hinaus erweitert. Das ist eine wichtige Information, denn den Namen „Fallersleber Tor“ trägt derjenige der sieben städtischen Bezirke des „Landesverbands Braunschweig der Gartenfreunde e. V.“ in seinem Namen, in dem der „Kleingartenverein Mutterkamp e. V.“ neben 16 weiteren Vereinen Mitglied ist (vgl. Landesverband 2023).
Die Okerumflut verblieb, also die zwei für die Stadtbefestigung künstlich angelegten Wassergräben. Zunächst wurden im Ostteil verständlicherweise Gebiete mit trockenem Baugrund bebaut: Auf dem höher liegenden Gebiet des Giersbergs und auf dessen Ausläufer – der Wasserturm liegt heute am höchsten Punkt – entstand ab 1838 beispielsweise an der heutigen Kasernenstraße die erste Infanteriekaserne, Kaserne für zu Fuß marschierende Soldaten, „Fußvolk“. Ab 1860 folgten erste Wohnbauten in der Parkstraße, Helmstedter und Gliesmaroder Straße. Es schlossen sich weitere kleinere (Fachwerk-)Häuser in der Leonhard-, Bertram-, Fasanen- und Rosenstraße wie auch der Kastanienallee an.

… über die Aufgabe des „Herzoglichen Küchengartens“ …
1858 teilte der Theaterbau den Fürstlichen/Herzoglichen Park, der ab 1800 auf dem Gelände der ehemaligen Bollwerke (Bastionen) Anton und Ulrich entstanden war. Östlich ging der Park in den „Herzoglichen Küchengarten“ über, der wie der Fürstliche Park teils auch landschaftlich gestaltet war und „sich in Ost-West-Richtung etwa von der heutigen Steinbrecherstraße bis fast zum Ufer des Okerumflutgrabens, in Nord-Süd-Richtung von der heutigen Heinrichstraße bis fast zur Helmstedter Straße erstreckt hatte“ (Warnecke 2006b, S. 52). Die Oker bildete eine mitten im Park liegende Grenze: Zum Küchengarten fuhr eine Fähre. Später verband eine Brücke (heutige Theaterbrücke) den Fürstlichen Park mit dem „Herzoglichen Küchengarten“, welcher 1889 zur Bebauung freigegeben worden war. Daraufhin ließ sich zwischen 1890 und 1906 die Kaiser-Wilhelm-Allee (heutige Jasperallee) mitsamt einer prächtigen Mittelpromenade planen und errichten (vgl. Tute und Köhler 1989, S. 158).
… bis zur Mittelpromenade im „Morgenland“ …
Um das sog. „Morgenland“ (Östliches Ringgebiet) weitererschließen zu können, hatte es aufwendiger Kanalisationsanlagen bedurft. Das tief liegende Gebiet des „Hagenbruchs“ (Bruch=Sumpf) und des „Sauteichs“ an der Stelle der heutigen Paulikirche musste zunächst entwässert werden (vgl. Warnecke 2009, 1, S. 4; Warnecke 2010, 3, S. 4): Tonhaltiger Boden hielt das Schichtenwasser auf und konnte von Süden (heutige Herzogin-Elisabeth-Straße) einzig durch den Adamsgraben nach Norden bis zur heutigen Karlstraße und von da aus nach Gliesmarode abfließen.
… und im alten „Flößerhaus“ im Botanischen Garten heute die „Grüne Schule“
In den 1740er Jahren wurden daher Schifffahrtskanäle geplant: Der „Nussbergkanal“ hätte als Stichkanal in den Schunter-Mittelriede-Kanal einmünden sollen. Der befand sich beim „Gliesmaroder Thurm“, einem im 15. Jahrhundert errichteten Wehrturm und Teil der mittelalterlichen äußeren Befestigung (Landwehr). Tatsächlich gebaut wurde der Karlskanal: Dieser Hauptkanal begann etwa an der Ecke Karlstraße/Bindestraße und führte bis zum heutigen Botanischen Garten. 1788 wurde die Schifffahrt eingestellt, 1806 die Holzflößerei (vgl. Warnecke 2006b, S. 30 f.).
Passende Info zum Thema Kleingartenwesen: Im Rahmen der „Grünen Schule“ der TU Braunschweig experimentieren heutzutage Kinder und Jugendliche im Botanischen Garten in einem ehemaligen Flößerhaus.
Quellen:
- Mittmann, Markus (2003): Bauen im Nationalsozialismus. Braunschweig, die „Deutsche Siedlerstadt“ und die „Mustersiedlung der Deutschen Arbeitsfront“ Braunschweig-Mascherode. Ursprung – Gestaltung – Analyse. Hameln: Niemeyer.
- Landesverband Braunschweig der Gartenfreunde e. V. (2023): Bezirke und Vereine. Online: https://www.gartenbund.de/landesverband-braunschweig-der-gartenfreunde-ev/bezirksverbaende/bezirk-fallersleber-tor [21.11.2023]
- Warnecke, Burchardt (2006b): Der Braunschweiger Nußberg und seine Umgebung. Ein Stück Stadtgeschichte aus dem Osten der Stadt Braunschweig. 10. Aufl. Braunschweig: Appelhans
- Tute, Heinz-Joachim und Marcus Köhler (1989): Gartenkunst in Braunschweig. Von den fürstlichen Gärten des Barock zum Bürgerpark der Gründerzeit. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Stadt. Braunschweig: Stadtarchiv und Stadtbibliothek Braunschweig.
- Warnecke, Burchardt (2009): Zur Entstehung des Östlichen Ringgebiets. In: Klinterklater. Östliches Ringgebiet. Zeitung der SPD-Ortsvereine Fallersleber Tor, Magnitor und Steintor. 11. Jg., Nr. 1, S. 4 f./ März 2009, S. 4. Online: https://www.spd-braunschweig.de/wp-content/uploads/sites/657/2019/02/2009_1.pdf (27.09.2023)
- Warnecke, Burchardt (2010): Das Wirken von Stadtbaurat Ludwig Winter im Morgenland. In: Klinterklater. Östliches Ringgebiet. Zeitung des SPD-Ortsvereins Östliches Ringgebiet. 12. Jg., Nr. 3, S. 4 f./ September 2010, S. 4. Online: https://www.spd-braunschweig.de/wp-content/uploads/sites/657/2019/02/2010_3.pdf (27.09.2023)
- Geibel, Richard (23.04.1934): „Schrebergartenverein Heinrichstraße. Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Liegt nun ein dringendes Bedürfnis vor?“ Typoskript. Stadtarchiv Braunschweig: Signatur E 66: 414; 3 Seiten. (Rückfrage zur Kündigung und Bitte um Ausgleichsfläche, April 1934)